Wieso knausern wir Menschen mit der Zeit, als wäre es ein knappes Gut? Weil wir das über die Zeit so gelernt und verinnerlicht haben. Über die Jahrhunderte machten Bevölkerungswachstum und -ballungen es nötig, Aktivitäten immer besser zu koordinieren, also auch Zeitkorridore festzulegen und Zeit zu messen. Daraus Zeitsparmöglichkeiten und Rationalisierungspotenziale zu entwickeln hatte vor allem ökonomische Gründe. Kosten und Zeit in ein voneinander abhängiges Verhältnis zu bringen, war eine ökonomische Konsequenz. Diese Entwicklung wurde von der Industriellen Revolution im beginnenden 19. Jahrhundert enorm beschleunigt. Elektrizität, Dampfmaschine, Telegrafie etc. entwickelten aber nicht nur eine ungeheuere wirtschaftliche Dynamik, es entstand auch ein anderes Zeitbewußtsein. Zeit wurde kost-bar, die Kontrolle von Zeit zur moralischen Pflicht des Individuums, die Taschenuhr zum Statussymbol. Die industrielle Produktion von Taschenuhren machte sie für alle erschwinglich. Der zunehmende internationale Handel machte es nötig, Zeit über die Grenzen hinweg zu synchronisieren. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Weltzeit eingeführt.
Die Zeit, wie wir sie kennen, ist also eine Erfindung von uns Menschen! Und Uhren sind die Apparate, die die Zeit zu messen scheinen. Zeitwert zu etwas Faktischem, zu etwas, das ohne Mitwirken abläuft. Das allerdings ist ein Irrglaube, ein Mythos, böswillig: Unsinn. Zeit ist etwas, das wir Menschen gemacht haben, und der wir uns freiwillig unterwerfen. Freiwillig. Was wir daran nicht ändern können ist, dass ein Tag 24 Stunden hat. Was wir aber sehr wohl ändern können ist, wie wir Zeit empfinden, und welche symbolische Bedeutung wir ihr zuschreiben.
Und damit sind wir bei einem Gedanken, der mit dem Thema Zeit eine unselige Allianz einging. Der Buchtitel von Max Weber „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ bringt es auf den Punkt: Einerseits Zurückhaltung, Bedürfnisaufschub, Glaube und Fleiß im Beruf, der als göttliche Berufung verstanden wird. Andererseits das Streben nach Gewinn, Rentabilität, rationale Betriebsorganisation und Buchführung, – Charakteristika einer kapitalistischen Wirtschaft.
Hartmut Rosa schreibt in seinem Buch »Beschleunigung« in Bezug auf Weber:
»Der kategorische Imperativ der protestantischen Ethik wie des kapitalistischen Ethos besteht in der Verpflichtung, die Zeit so intensiv wie möglich zu nutzen, Zeitverschwendung und Müßiggang systematisch auszuschalten und sich über die verbrachte Zeit genaue Rechenschaft zu geben.« Und weiter: “Jene die Grunderfahrung der Moderne prägende Rast- und Ruhelosigkeit durch systematische Eliminierung von Pausen und Fehlzeiten sowie die kategorische Ökonomisierung der Zeit in der Lebensführung sind daher nach Weber die Konsequenz einer ursprünglich (calvinistisch-puritanisch-)protestantischen und später säkularisierten Geisteshaltung, nach der eine einmal verlorene Sekunde für immer verloren ist.”
Was daran besonders auffällt ist die Tatsache, dass Die Disziplinierung durch Zeit peu à peu ihre religiösen Wurzeln verliert. Unser Denken und Handeln braucht keine normativen Wurzeln mehr. Wir machen das jetzt ganz selbständig. Freiwillig. Wir fügen uns ins Naturgesetzhafte der Zeit! So isses! Da kann man eben nichts machen, gell? Aber es geht um viel mehr. Denn dieser Funktionsmechanismus hat alle Bereiche des sozialen Lebens durchdrungen. Gesundheit, Bildung, Kultur, Wohlstand, – die Verteilung von Lebenschancen hängen vom wirtschaftlichen Erfolg ab.
Dieser Entwicklung können wir aber etwas entgegensetzen. Wer heute Zeit vergeudet, scheint im Korsett der Effizienzmaschinerie die Funktion des Hofnarren einzunehmen. Der Hofnarr aber war der einzige, der den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen konnte. Der Wunsch nach mehr Langsamkeit, neudeutsch „Entschleunigung“, ist also keineswegs die naive Vorstellung eines hoffnungslos verwirrten Geistes. Im Gegenteil liegt darin der Ausweg für eine kranke Gesellschaft, die unter Entgrenzung und zunehmender Beschleunigung leidet. Wirklich reich sind wir erst dann, wenn wir über freie Zeit verfügen, wenn wir damit machen können, was wir wollen. Dass das eine schwierige kulturelle Aufgabe ist, macht mir die Erinnerung an die Bemerkung eines Jungen in einer Ferienfreizeit 1980 klar. Auf die Frage, an welcher Aktivität er heute teilnehmen wolle, kommentierte er entrüstet: „Müssen wir etwa schon wieder machen, was wir wollen?!“ Es liegt noch ein weiter Weg vor uns!