„Was einer so denkt, der etwas Neues wagt!“ – Nachtrag!

Ganz aktuell ist eine Erfahrung aus einem Treffen, das den Zweck hat, sich um grundlegende Themen zu kümmern, um Themen also, die alle angehen. Das können konkrete Themen sein, wie beispielsweise die Frage, ob eine Mikrofonanlage angeschafft werden soll. Aber auch etwas weniger konkrete, wie beispielsweise die, ob die Willkommenskultur Schaden nähme, wenn es in einer der ersten Sitzungen der Gemeindevertretung eine Vorstellungsrunde gäbe. Gerade dieser letzte Punkt berührt jedoch ein Thema, an dem sich durchaus ablesen läßt, mit welcher Haltung ich künftig zu rechnen habe.

Ignoranz? Besserwissen? Rechthaben?

Ich hatte diese Denktradition für überwunden geglaubt, und sah mich doch plötzlich mit alten Klischees konfrontiert. Die Meinung, für Vorstellungsrunden habe man keine Zeit, schließlich habe man einen Job zu erledigen, beschreibt einen Gegensatz, der nicht nur keiner ist. Sie transportiert auch den rituellen Vorbehalt gegen etwas, das die eigene Tradition in Frage stellen könnte. Eine solche Aussage eröffnet einen tiefen Einblick in die Werkzeugkiste alter Ressentiments. Dorthin gehört auch die Meinung, man könne ja im Rahmen einer Besichtigung, der Kläranlage beispielsweise, einen Umtrunk organisieren um so miteinander ins Gespräch zu kommen. Im Sommer. Wer das denn wolle. Es wurde nicht explizit die Kläranlage genannt, aber ein vergleichbares Ausflugsziel!

Die Meinung, solch methodischer Schnickschnack wie Vorstellungsrunden sei etwas fürs Privatvergnügen und tauge nicht für die professionelle Arbeit in der Gemeindevertretung, ist völlig ungetrübt von gruppenpsychologischen Erkenntnissen der letzten 40 Jahre. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sie geäußert wurden, zeugt sie doch von einem sehr eingeschränkten Verständnis einer lebendigen Kultur in einer Gemeinde. Halb so wild, kann man alles noch lernen, ist man geneigt zu sagen. Doch es handelt sich um, teilweise, langjährige politische Entscheidungsträger:innen, die bisher die Geschicke dieser Gemeinde lenkten. Und das auch künftig tun sollen. Eine ernüchternde Erkenntnis!

Aber warum eigentlich? Naja, weil diese Erfahrung an eine Tatsache erinnert, die ich längst für bedeutungslos hielt. So dachte ich bis gestern. Es geht um ein Thema im Rahmen der Bildungsforschung, und handelt vom intellektuellen Gefälle zwischen Stadt und Land. Dass es das tatsächlich gab, ist empirisch in vielen Studien längst nachgewiesen. Es war  unter anderem auch ein Aspekt in der Bildungsphilosophie der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Also schon die Weile her! Könnte sich also rumgesprochen haben! Im Rahmen meiner früheren Studien zur Entstehung und Entwicklung der sog. Volkshochschulen wurde mir aber klar, dass es dieses Gefälle so nicht mehr gibt. In Dänemark zumindest, wo die Volkshochschulen erfunden wurden. Dort waren sie aber völlig anders konzipiert. Der Anlass damals: Das besagte intellektuelle Gefälle ist als gesellschaftliches Problem erkannt und sollte nivelliert werden! Die Lösung: Mehr Zeit für Bildung! Konkret: Einführung eines Rechtsanspruchs auf Bildungsauszeit, wenigstens sechs, höchstens zwölf Monate. Dafür wurden Heim-Volkshochschulen als Bildungseinrichtungen konzipiert und gebaut, denn dort sollte diese Zeit verbracht werden. Im Mittelpunkt stand dabei nicht die Vermehrung von speziellem Wissen. Es sollten im Gegenteil möglichst vielfältige, verschiedene Themen sein, mit denen man sich in dieser Zeit beschäftigen wollte. Die Ehepartner:in durfte begleiten, der Staat hat bezuschusst! So die Idee und die dänische Praxis! Eine attraktive Idee und eine gelungene politische Intervention, die bis heute ihre Bedeutung hat und eine spezifische dänische Tradition darstellt.

„Beratungsresistenz“ macht Dialog unmöglich!

In Deutschland wurde daraus ein zurechtgestutztes Modell der Wissensvermittlung, garniert mit psychologisch tapezierten Kursen für mehr Achtsamkeit, oder modische Reflexe wie Origami für Anfänger:innen, oder Dauerbrenner wie Sprachen lernen – ehrenwerte Versuche, deren grandioses Scheitern bereits im Jodeldiplom-Sketch von Loriot unnachahmlich und eindrücklich vorgeführt wurde. Und ohne jetzt auch noch PISA, OECD, Bertelsmann oder andere Studien bemühen zu wollen: Es hat wohl nicht geklappt mit der Nivellierung des Gefälles, heißt die etwas deprimierende Erkenntnis. Sie treibt an, dieses Phänomen ernst zu nehmen, es genau zu analysieren. Vor dem Hintergrund globaler und komplexer Probleme ist das eine Aufgabe, von der unser Überleben abhängt. Eine Vorstellungsrunde ist für vieles gut, auch dafür weitet sie den Blick.

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