Folgenlose Einsichten?

Bei der aktuellen Diskussion in den sozialen Medien, in vielen Foren, Verlagen, Kommentarspalten, Feuilletons, etc., digital, analog, oder irgendwie, werden die unterschiedlichsten Positionen gegeneinander gestellt, verglichen, abgegrenzt, verschmolzen. Es ist eine „entweder-oder- Haltung, die ich oft wahrnehme. In der Regel vor dem Hintergrund der Positionen, die man ohnehin schon lange einnimmt. Schlussendlich bleibt dann wieder nur, schicksalsergeben-fatalistisch, die platte Erkenntnis, dass der eine es so, der andere es eben anderes sieht. Das gipfelt dann gerne auch in Vorwürfen, gespeist aus unreflektierten Vorurteilen, die vom Kadavergehorsam bis zum Verschwörungstheoretiker mit Staatsphobie die ganze Palette der bekannten Schmähungen aufweist. Und natürlich einen Dialog, jeden Dialog, im Keim erstickt! Es ist eine Haltung, die schon immer wusste, was richtig ist, wie’s geht, und wer schuld ist. Bisweilen ein eloquent verpacktes, rhetorisch gut strukturiertes, wissenschaftlich begründetes Handreichen zum Dialog, das aber nur so tut, als ob. In dem Moment, in dem sich tatsächlich eine Art Dialog, ein Streitgespräch, entwickeln würde, ist die Hand schon wieder weg.

Das erinnert an ein im besten Sinne merkwürdiges Begrüßungsritual zweier Fahrräder schiebender Frauen, deren zufällige Begegnung sie zu einer Art Dialog veranlasste, der als Paradebeispiel einer gelungenen Kommunikation in die Lehrbücher aufgenommen werden sollte. Diese Begegnung ereignete sich in der Kurpfalz, ergalso (Malmsheimer) im kurpfälzer Platt, also in der gebotenen Kürze, und ging so: Frau 1: „Unn? Wie?“, Frau 2: „Ha – ’s muss!“, Frau 1: “ Na, mir werre’s rumbringe!“, Frau 2: „Hajoo, allaadann!“ Alles klar, alles verstanden, alles wie immer, kein Grund zur Beunruhigung! Hier wird alles transparent, was gute Kommunikation ausmacht: Verständlichkeit (Sprache und Dialekt, kurze Sätze!), Verstehbarkeit (wir haben Interesse aneinander), Wertschätzung und soziale Integration (Fahrräder schieben, ähnliche Tätigkeiten!), Transzendenz (das Leben vom Ende her denken!), Großzügigkeit und Akzeptanz (wir sitzen alle im selben Boot: WIR!).

Ist Kommunikation wirklich so einfach? Ja, mitunter scheint sie einfach, sie ist es aber nie! Wenn unsere Art miteinander zu sprechen, nicht ritualisiert erstarrt bleiben soll, wenn wir uns der „Illusion der Eindeutigkeit“ in der Kommunikation berauben, wenn wir uns also ent-täuschen wollten, dann müssen wir die „entweder-oder“-Falle umgehen. Mir hilft dabei das Nachdenken, um welche Fragen es eigentlich geht, was die wirklich wichtigen Themen sind. Auf welche Fragen brauchen wir wirklich dringend Antworten?

In einem ersten Schritt halte ich mich an eine systemische Herangehensweise, nämlich das Gute im Schlechten zu suchen. Das ist ein hilfreicher Ansatz, und auch jetzt ein guter Anfang. Was also ist das Gute im Schlechten der Corona-Pandemie? Nun, zum Beispiel haben wir gerade viel Zeit, über uns und unser Zusammenleben nachzudenken, ohne dass ein Termindruck-Hamsterrad uns davon abhält (obwohl die digitalen Sitzungen mit der „teams-zoom-webex“-Software sich bereits erkennbar darum bemühen, diese Funktion zu übernehmen!) . Wir können uns zur Zeit Dingen widmen, die aus demselben Grund bisher liegengeblieben sind. Wir können Muße wieder schätzen lernen, die Stille neu entdecken, die Erkenntnis genießen, dass vieles nicht wirklich nötig ist, die Erfahrung erneuern, dass Gespräche anstrengend sein können, wenn man sich drauf konzentriert, wir können die dynamische Balance von Alleinsein und sozialen Kontakten neu justieren, -und wir können uns mit den großen Fragen der Menschheit befassen.

Beispielsweise, warum Hunger noch immer weltweit die häufigste Todesursache ist. Ich halte diese Frage für diejenige mit der größten Systemrelevanz! Oder: Wie kann es sein, dass wenige Menschen es sich auf Kosten vieler Menschen gutgehen lassen? Wieso schlittert die Menschheit sehenden Auges in die Klimakatastrophe, und tut nichts?! Oder die Frage, die im Lichte aktueller Erfahrungen präsenter ist denn je, ob nämlich das Gesundheitssystem nicht doch besser staatlich organisiert werden muss, damit alle gleichermaßen versorgt werden? Was macht es mit den Menschen in einem Krankenhaus, wenn es wie ein Unternehmen geführt wird? Ob überhaupt die grundlegende Versorgung in den Bereichen Gesundheit, Mobilität, Energie und Wasser, um nur einige zu nennen, nicht besser stattlich organisiert sein muss, wenn alle gleichermaßen daran teilhaben sollen? Oder auch die Frage, ob der Föderalismus nicht einer Reform bedarf, z. B. hinsichtlich einer Art Konsensverpflichtung? Und in diesem Zusammenhang auch das Thema Europa, mit der Idee einer europäischen Republik, in der die Nationalstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität auf eine supranationale Regierung übertragen? Immer nach demokratischen Prinzipien, versteht sich. Aber immer getragen von der Haltung des Möglichmachens, immer orientiert an der Frage, wie es möglich werden kann. Wieso schaffen wir nicht das Prinzip der Einstimmigkeit in den europäischen Regierungsgremien ab, das jede vernünftige Entwicklung verhindert? Warum erlebt der autoritäre Staatsführer eine Renaissance, und warum tun wir nichts dagegen? Wieso schaffen es Lobbyisten nach wie vor, die Interessen von wenigen erfolgreich zu vertreten, auf Kosten der Interessen vieler? Wie können wir das regional regeln, was regional regelbar ist, und wie reduzieren wir die Abhängigkeit global agierender Konzernverflechtungen? Wie bleiben wir bei all diesen Fragen lösungsorientiert, differenziert, konzentriert, großzügig und respektvoll? Wie bleiben wir human?

Und auch wenn ich sehr gut verstehen kann, dass Alfred Andersch, im Rückblick auf die nationasozialistische Barbarei, verzweifelt ausrief: „Schützt denn Humanismus vor gar nichts?“, – ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Max Horkheimer hat einmal auf die Frage, ob er Optimist oder Pessimist sei, geantwortet, er sei theoretischer Pessimist und praktischer Optimist. Das scheint mir eine weise Haltung zu sein. Denn natürlich ist es nicht wirklich eine spinnerte Idee, über all diese Fragen nachzudenken. Es ist ein Versuch, konstruktiv Zukunft zu gestalten, im Dialog, gleichberechtigt, und gemeinsam. In einem aktuellen ZEITonline-Post thematisiert Hartmut Rosa genau dieses Thema: Wir leben in einer kollektiven Entschleunigung, und nutzen sie nicht. Wir können die Welt verändern, und genau das sollten wir auch tun. Jetzt ist die Zeit, wie einst Rio Reiser sang: „Wann, wenn nicht jetzt, wo, wenn nicht hier, wie, wenn ohne Liebe, wer, wenn nicht wir?!“

Ergänzende Texte der Soziologen Armin Nassehi:  Nichts ändert sich und Hartmut Rosa: Nach Corona, ein kabarettistischer Beitrag über Humanismus von Josef Hader, und zur alten, aber sehr aktuellen Frage, ob in einer Demokratie der Primat der Politik oder der Ökonomie gebührt, ein Streitgespräch im Carl-Auer-Verlag, quasi der Heimathafen aller systemischen Denker in Deutschland: Zur Seite …

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