Flaneur trifft Weinreinbringer?!

AVANTI DILETTANTI: EINE ART PROGRAMMATIK

Ich möchte hier und heute mal eine Lanze gegen die um sich greifende Sprachschlamperei brechen, und gleichermaßen für mehr Sensibilität und Nachdenklichkeit plädieren. Das werde ich am Beispiel des Begriffs Dilettantismus tun, ein Begriff, der im „Brackwasser der Beliebigkeit“ untergegangen sein wird, wie der Kabarettist Georg Schramm treffend formulierte. Vielleicht sind Sie verwundert über die Verwendung des Futur Zwei? Nein, es handelt sich nicht um die Stiftung von Harald Welzer, sondern um Grammatik. Wenn Ihnen das also aufgefallen sein sollte, bedanke ich mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Sensibilität, – und ihre Schulzeit. Immerhin blieb ja was hängen. Und deshalb kann ich jetzt plausibel erklären, dass die Verwendung dieser grammatischen Form mir nämlich, theoretisch, die Chance eröffnet, rückblickend aus einer vorgestellten Zukunft, Lehren für das Hier und Jetzt zu ziehen. Die Zukunft kann so, aber auch anders aussehen. Das Futur zwei eröffnet mir sprachlich die Option, Zukunft anders, nämlich veränderbar, gestaltbar zu sehen. Weshalb ich meine Kritik auch zuversichtlich und konstruktiv formulieren möchte, als ewig ins gleiche Horn zu stoßen, wie beschissen unsere Zukunft wird! Wenn ich jedoch das Perfekt verwenden würde, die Formulierung einer vollendeten Vergangenheit, könnte das zu einer reflexhaften Einordnung in eine Schublade verleiten, auf der das Etikett „kulturpessimistische Larmoyanz“ prangt. Und auch wenn ich in diesen weinerlich-klagenden Tenor durchaus routiniert einstimmen könnte, so doch geht mir doch diese verzagte Haltung schon lange gehörig auf den Wecker! Ich halte es in diesem Fall eher mit Martin Luther:„Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“.

Nun, da die Verwendung des Futur Zwei also hinreichend geklärt ist, wende ich mich der eigentlichen Frage zu: Warum um alles in der Welt geht es um den Begriff Dilettantismus? Zum einen hat das mit meiner Einstellung zu tun, immer dann gegen den Strom schwimmen zu wollen, wenn alle dafür sind. Dagegen. Prinzipiell. Zunächst. Natürlich ist das eine Marotte, eine Art Reflex, eine Merkwürdigkeit, ein Gruppenzugehörigkeitsattribut, Attitüde eines Menschen, der sich moralisch auf der richtigen Seite stehen sieht. Wo auch sonst, schließlich habe ich Adorno gelesen! Aber … es ist weit mehr als das! Gleichzeitig ist diese widerständige Einstellung auch eine äußerst konstruktive Gestaltungskraft, die eine gehörige Portion Mut erfordert, wie der katholische Theologe Lothar Zenetti in seinem Gedicht „Was keiner wagt“ wußte. In dem Gedicht, übrigens kongenial vertont von Konstantin Wecker, heißt es:

„Was keiner wagt, das sollt ihr wagen  

was keiner sagt, das sagt heraus

was keiner denkt, das wagt zu denken

was keiner anfängt, das führt aus

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen

wenn keiner nein sagt, sagt doch nein

wenn alle zweifeln, wagt zu glauben

wenn alle mittun, steht allein

Wo alle loben, habt Bedenken

wo alle spotten, spottet nicht 

wo alle geizen, wagt zu schenken

wo alles dunkel ist, macht Licht.“ 

Im aktuellen Fall bedeutet gegen den Strom zu schwimmen, sich für etwas stark zu machen, das dermaßen negativ besetzt ist, dass man in der deutschen Sprache kaum abfälliger, vernichtender kommentieren kann. Und das vollkommen zu unrecht! Denn der aktuelle Sprachgebrauch hat nichts, überhaupt nichts mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs zu tun. Wohl aber sehr viel mit einem Wort, das in unserer deutschen Gesellschaft abstruserweise zum positiven Absolutum  sich entwickelt hat: Nein, es geht jetzt nicht um das „postponierte (nachgestellte) Reflexivum SICH“ (Eckhard Henscheid) ! Es geht um das Wort Professionalität. Denn wer über Dilettantismus nachdenkt, muss auch über dessen Gegenbegriff sprechen. Professionalität ist zur alles verklärenden Folie geworden, zur alleingültigen Orientierung, zum unhinterfragbaren Qualitätsmerkmal, zum quasi universellen Standard. Die Nennung dieses Begriffs stoppt jedes Gespräch, hebelt jede Argumentation aus, spaltet unmittelbar in Rechthaber und Nicht-Rechthaber auf. All das ist Grund genug, gegen diesen Begriff vorzugehen, etwas gegen ihn zu unternehmen, ihn zu relativieren, ihm „die Luft rauszulassen“, ihn auf seinen Platz zurück zu drängen, ihn zu demaskieren. Und das mindestens mit der gleichen Verve, mit der sich Joseph von Westphalen in seiner Essay-Sammlung „Warum ich trotzdem Seitensprünge mache“ darüber  entrüstet:

„Profis können Dilettanten nicht leiden. Sie können es denen nicht gönnen, daß vielleicht die ohne Ausbildung die besseren Einfälle haben. Also müssen Dilettanten, wo immer es geht, schlecht gemacht und belächelt werden. Denn sie sind schon seit langem eine Gefahr für die Profis. (..) Die Kunst und die Literatur, die uns heute zum Hals heraushängen, sind aber ein Werk von Profis. Der Profi dübelt. Für eine Ewigkeit soll der brutale Haken halten. Der Dilettant schlägt einen liebevollen Nagel ins Holz und biegt ihn um. Das hält lang genug. Die Welt ist ein Provisorium. Dieser Satz könnte aus einer Sonntagspredigt stammen. Daher fahre ich fort: Die Welt gehört in die Hand von Stümpern und Pfuschern. Es lebe das Flickwerk, das Unperfekte, der rostige Nagel, der Blumendraht. Die Profis haben versagt.“  

Er zieht gnadenlose Konsequenzen daraus, die trotz alledem aber ein durchaus sympathisches Bild unserer Zukunft malen:

„Die Welt muß endlich den Dilettanten überlassen werden. Das wird hart. Denn es ist nervtötend, mit Dilettanten zu arbeiten. Sie verstehen auf Anhieb nichts, fragen dauernd nach, machen trotzdem alles falsch. Sie sind unzuverlässig, unpünktlich, nicht belastbar. Sie weigern sich, etwas zu tun, haben Gewissensbisse, blockieren mit ihrem Unverstand und ihren Skrupeln jeden reibungslosen Ablauf. Und gerade dies ist dringend nötig.“ 

Das ist für mich eine bündige Sache, eine gute Analyse, schlüssige Konsequenzen, politisch relevant, anschaulich und einprägsam formuliert, das taugt als Grundlage für ein provokantes Einmischen in den öffentlichen Diskurs. Applaus! Tusch! Abgang!

Denn Westphalen formuliert damit vor allem eine Option für uns Menschen, den Kopf, und damit die Orientierung, nicht zu verlieren im industriellen Effizienzgewitter. Und auch wenn der globale Siegeszug der Funktionalität, von Schiller noch als das „Joch des Nutzens“ gebrandmarkt, unaufhaltsam scheint, indem er jede kleine Oase des scheinbar Unsinnigen, des Zwecklosen, ins grelle Licht der Überprüfbarkeit und der Frage nach dem Mehrwert zerrt, so steckt doch gerade im Dilettantismus eine Art Korrekturmöglichkeit, die uns helfen könnte, eine aus den Fugen geratene Menschlichkeit wieder zu justieren. 

Der Begriff wurzelt im lateinischen Wort „delectare“, – sich erfreuen an. Im Italienischen ist der Begriff „dilettante“ immer noch in diesem Sinne besetzt. Er bezeichnet einen Amateur, also einen Liebhaber, der sich mit seinem ganzen Wesen einer Tätigkeit hingibt. Einer Tätigkeit, für die er eventuell sogar ähnlich gute Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt hat, wie jemand, der diese Tätigkeit als Beruf, also professionell, ausübt. „Avanti Dilettanti!“ war in Italien der programmatische Aufruf, die eigene Phantasie, das eigene Denken zu entwickeln, und öffentlich zu machen. Was durchaus in der Tradition der europäischen Aufklärung zu verstehen war, in deren Zentrum das „sapere aude“ Immanuel Kants leuchtete (und es noch tut), die Aufforderung, seinen Verstand ohne Leitung eines anderen zu gebrauchen. 

Auch der österreichische Schriftsteller und Journalist Egon Friedell (österreichischer Schriftsteller und Schauspieler, Kulturphilosoph, Journalist, Theaterkritiker, geboren (1878) und gestorben (1938) in Wien, arbeitete u. a. mit Karl Kraus und Max Reinhardt, war Jude und entging der nationalsozialistischen Barbarei durch Selbstmord) formulierte in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit (1927)“ im Herbst seines Lebens sehr bemerkenswert:

„Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt wird. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im üblen Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel.“ 

Und auch er zog schlüssige Konsequenzen, die unser heutiges Handeln und unser Verhalten beeinflussen könnten, ja unbedingt sollten, sie würden unsere Dialoge, unsere Gespräche wieder zu etwas werden lassen, was diesen Namen verdient:

„Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt dieTradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr. Auch weiß er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens. Die ganze Geschichte der Wissenschaft ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus. (…) Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts Zuverlässiges wissen kann, kurz Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen ließe, daß sie falsch sind – dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, (…).“ 

Der Horizont dieser aufklärerischen Kulturtradition bleibt dem aktuellen Begriff Dilettantismus vollkommen fremd, der schlampige Sprachgebrauch reduziert den Begriff auf ein Wort, er macht ihn zum Bestandteil des Geschwätzes, setzt ihn damit der Willkür und der Beliebigkeit aus, macht ihn zur inhaltsleeren, sinnlosen Formel, zur weiteren Phrase einer wortreichen Sprachlosigkeit. Sprache aber verbindet Denken und Sensibilität, also das, was den Menschen wesentlich ausmacht! Denken, nachdenken, reflektieren, fühlen wird durch Sprache nach außen sichtbar, und damit wahrnehmbar, kommentierbar, wirksam. Das Denken braucht Sprache, und je verwilderter, schlampiger, beliebiger die Sprache, desto verwilderter, schlampiger, beliebiger das Denken. Dieser Zusammenhang ist nicht originell, sondern bereits seit Konfuzius evident:

„Stimmen die Namen und Begriffe nicht, so ist die Sprache unklar. Ist die Sprache unklar, so entstehen Unordnung und Misserfolg. Gibt es Unordnung und Misserfolg, so geraten Anstand und gute Sitten in Verfall. Sind Anstand und gute Sitten in Frage gestellt, so gibt es keine gerechten Strafen mehr. Gibt es keine gerechten Strafen mehr, so weiß das Volk nicht, was es tun und was es lassen soll. Darum muss der Edle die Begriffe und Namen korrekt benutzen und auch richtig danach handeln können. Er geht mit seinen Worten niemals leichtfertig um.“ 

Wenn ich mir aktuelle Kommunikations- und Sprachmuster vergegenwärtige, und ich tue das täglich, dann ist aus einem ehemals keimenden Verdacht längst die ernüchternde Gewissheit geworden, dass Sprache, vor allem im öffentlichen Raum, in ihr Gegenteil verkehrt wird: Die Fähigkeit der präzisen Mitteilung und differenzierten Beschreibung, untrennbar verbunden mit Konnotationen auf der Beziehungs- und Symbolebene, wurde korrumpiert zu einer Art Herrschaftssprache, 

  • die einen Dialog unter den Menschen nicht nur nicht fördert, sondern systematische verhindert, weil Begriffe und Satzkonstruktionen verwendet werden, die keiner versteht; 
  • die Menschen für dumm verkauft, weil der arrogante Habitus des Eloquenten einschüchtert, und dabei doch nur die Phrasenhaftigkeit, die Sinnlosigkeit übertüncht; 
  • die eine intellektuelle Ödnis ausbreitet, und dafür sorgt, dass  sinnentleerte Worthülsen im eingangs erwähnten „Brackwasser der Beliebigkeit“ untergehen werden. Jetzt passt Futur eins besser!

Zugestanden, ein düsteres Szenario. Aber: Denkende Menschen haben kein Recht auf Resignation, meinte einst Georg Schramm. Und: Vor jeder erfolgreichen Reha-Maßnahme steht eine umfassende Analyse. Ergo: Wenn ich mich von der Macht der anderen, und vor allem von meiner eigenen Ohnmacht, nicht dumm machen lasse, wie Adorno riet, ich außerdem den Mut von Bert Brecht („Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“ ), und Rosa Luxemburg („Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat!“ ) nicht drangebe, mir hie und da noch Rat einhole, ideelle Unterstützung erfahre, also Komplizen treffe, – dann kann ich, dann können wir in einer unübersichtlicher werdenden Welt standhalten. Mit einer wahrhaftigen Sprache gewinnen wir unsere Gestaltungskraft und den Willen wieder zurück, aus der Welt der entfremdeten Dimensionen, zugekleistert mit einer sinnentleerten Sprache, herauszutreten, und sie in unserem Sinne umzugestalten – wir werden zu Tätern unserer eigenen Geschichte. Ja, schon gut: Viel Pathos zum Schluß. Aber das gehört sich so, – denn ohne Pathos ist auch keine Lösung! 

Lesenswert: Eine instruierende und inspirierende wissenschaftliche Einführung in das „Konzept Dilettantismus“ von Roland Reichenbach, Professor für Pädagogik an der Universität Zürich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert