Ein quasi-therapeutisches Vademekum für Lehre und Lernen!

Die Digitalisierung ist mit dem Begriff Vademekum gemeint. Ein Vademekum ist ein Ratgeber, ein Handbuch, im übertragenen Sinn eine Orientierung, der Begriff stammt, wie so viele, vom Lateinischen ab. Therapeutische, also heilende Wirkung scheint die Digitalisierung zu haben, weil sie allenthalben als Lösung für schlichtweg alle Probleme herhalten muss, nicht nur für Lehre und Lernen. Sie ist das moderne Allheilmittel, der heilige Gral. Endlich. Über Digitalisierung habe ich im letzten Beitrag schon ausführlicher geschrieben. Heute geht es deshalb eher um Lehre und Lernen.

In der Entwicklung der Digitalisierung fällt auf, dass Unterricht nicht nur durch allerlei Technik „aufgerüstet“ wird. Es wird auch deutlich, dass Lehrende sich unterschiedlich schwertun mit diesen neuen Methoden. Da passt es gut, dass Lehrende in Unternehmen eine Veränderung ihrer Tätigkeiten erfahren. Unter dem allzeit richtigen Kritikerverdikt, dass Frontalunterricht überkommener Mist eine „old-school“- Lehre sei, macht die Digitalisierung aus dem Lehrenden die/den „Lernbegleiter*in“.

Diese Bezeichnung steht nicht mehr unter dem Generalverdacht der Frontallehre, oder dem unaufgeforderten Zeigen spontan sich ergebender Zusammenhänge, die für alle Lernenden interessant, überraschend und erhellend sein könnten. Als Lernbegleiter*in sind Lehrende auf die Funktion einer Reparaturinstanz reduziert, die zum Zuge kommt, wenn Lernende nicht mehr weiter wissen – in der Beantwortung von Lückentexten beispielsweise. Oder wenn der Geräuschpegel zu sehr ansteigt, Arbeitsanweisungen auf Arbeitsblättern nicht verstanden werden, etc..

Christoph Türcke, Professor emeritus für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, behauptete in einem Beitrag für eine Radiosendung des SWR2-Kultur, dass die Lehre durch die Einführung von Lernbegleiter*innen ihrer wesentlichen Qualität beraubt wird: Der des Zeigens! Auf der Grundlage gemeinsamer Worte, Gesten, Verhaltensweisen zeigen Lehrende den Lernenden – etwas Neues. Und das ist, wenn man so will, etwas Überraschendes, etwas Öffnendes, Feierliches, weil es nicht ständig passiert. Natürlich, so Türcke weiter, muß sich das dann setzen: durch wiederholen, variieren, ausprobieren! Ohne Zeigen jedoch bleibt Nacharbeit substanzlos.

In der Entwicklung hin zum Lernbegleiter sieht Tücke, und nicht nur er, eine unselige Entwicklung, die mit positiv konnotierten Begriffen wie „auf individuelle Bedürfnisse eingehen“, „flexibel reagieren können“, „unterschiedliche Lerntempi“, „keine Gießkannenvermittlung“, etc. zu verschleiern sucht, dass die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden auf dem Altar der Kostenersparnis geopfert wird. Flankiert wird diese Entwicklung von der überhand nehmenden Bedeutung der sogenannten „soft skills“, deren Omnipräsenz zu einer Erosion der hard skills führt. Soft skills, also Fähigkeiten wie Kopfrechnen, Orthographie, Grammatik, Satzbau, Argumentation, Schreibfähigkeit, Geschichte, geographische Orientierung, usw. werden mehr oder weniger übellaunig „mitgeschleppt“, – notwendige Übel einer überkommenen Haltung, als „old school“ milde belächelt. Bestenfalls!

Gerade die Schreibfähigkeit steht aktuell im Fokus, ist doch deren Abschaffung in einzelnen europäischen Staaten ein Zeichen für Modernität! Welch groteske Fehleinschätzung, und Verkennung der Bedeutung des Schreibens. Türcke bezeichnet das Schreiben als eine Art „mentaler Kläranlage“, schreiben nötigt zum Verweilen. In der modernen Gesellschaft der Industrienationen unterliegt jedoch alles dem unerbittlichen Rhythmus der Ökonomie. Die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit löst sich auf, weil unter dem Rubrum Flexibilisierung alte Strukturen und Abläufe radikal verändert werden, soziale Beziehungen erodieren, weil die Erfahrungen analoger Begegnungen, also IRL, im wirklichen Leben, durch die Erfahrung virtueller Begegnungen („Ich parshippe jetzt“) ersetzt wird, der Rückzug ins Private wird, mit dem verheißungsvollen Hinweis auf mehr Bequemlichkeit, durch die vernetzte digitale Technik erleichtert. Und wenn Schreiben zu langsam für die technische Entwicklung ist, dann fällt es umstandslos weg. Was sich unmittelbar auf unsere Sprache, und auf unser Denkvermögen auswirkt. Dass es sich auswirkt, ist eine wissenschaftliche Tatsache. Aber gegen die eigene, bessere Erkenntnis hat die Menschheit ja schon einiges entschieden. Es scheint sich um eine Art von Borniertheit, von Lernresitenz zu halten, pathologisch bestimmt, was nur eine entsprechend radikale Kur nahelegt!   

Gleichwohl handelt es sich beim vorliegenden Text von Christoph Türcke um eine Art Text, die jedem „linken“ Bildungsbürger aus dem Herzen spricht. Was ein  argwöhnisches Beäugen geradezu herausfordert! Schön in der Tradition von Joseph von Westphalen, leidenschaftlich sowohl gegen den einen, wie auch gegen den anderen Standpunkt zu argumentieren! Zu simpel scheint der sehnsuchtsvolle Blick zurück, zu naheliegend das Lob auf eine vergangene Schule, die Ordnung, Klarheit, und Lehrende als Respektspersonen noch kannte, zu kommod die Radikalkritik der Schule von morgen. Denn um die Schule von heute scheint es nicht zu gehen. Sicher ist die Beziehung von Lehrenden und Lernenden eine zentrale Kategorie, weil sie ein fundamentaler Erfolgsfaktor für den Lernerfolg ist. Das wird auch durch Ergebnisse der Hirnforschung (s. Gerhard Roth, Martin Korte et al.) unterstützt. Angesichts einer Digitalisierung der Welt, die nicht nur nicht zu stoppen, sondern bereits in vollem Gange ist, und der damit einhergehenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, also eben auch von Schule, stellt sich immer drängender die brisante Frage, wie wir sie gestalten können und wollen, unsere Welt, und unser gesellschaftliches Zusammenleben! Wie sieht die Vision aus, die, um im begonnenen Thema zu bleiben, uns hilft, eine Schule zu entwickeln, die gesellschaftliche Realität verändert? Die eine solidarischere, emphatischere, integrativere, gerechtere Welt entwickeln hilft? Oder überlassen wir den Apologeten der Nützlichkeit das Feld, für die Schule nur die optimale Anpassung an eine als unveränderlich angesehen Realität ist?!

Nein! Natürlich nicht. Im Lichte der aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung ist es vernünftig, für eine kritische Intervention das zu nutzen, was wissenschaftlich abgesichert ist: Der flächendeckende Einsatz digitaler Technik in Schulen beeinflusst das Denkvermögen messbar negativ. Er reduziert zunehmend die Fähigkeit, komplexe Probleme intellektuell angemessen zu erfassen, und die entsprechenden Lösungsvorschläge zu entwickeln. Martin Korte, Biologe an der Uni Braunschweig, hat das herausgefunden, in der internationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Forschung ist das Konsens.

Warum Lehrende eigentlich Künstler*innen sind, und nicht als Beamt*innen ihre Karriere dem „toten Sozialismus einer Verwaltungslaufbahn“ überantworten wollen, davon in einem der nächsten Beiträge, wenn es u. a. auch um de geschätzten Herrn Precht geht, der sich allerdings meiner Meinung nach in populistischen Niederrungen verrennt. Nun denn.

Ausführlicher zu Christoph Türke in diesem SWR2-Beitrag.

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