Das Digitale und dessen beleidigende Begrenztheit!

Gestern blieb ich beim müßigen Querlesen in diversen Print- und online-Medien an einer Aussage hängen, die meine Konzentration spontan bündelte: Wissenschafts-Podcasts, also Radiosendungen zu wissenschaftlichen Themen, nehmen rapide zu. Für sich genommen ist das noch keine Sensationsnachricht, die Begründung allerdings schon: Das Hören von Podcasts nimmt zu, weil Menschen glauben, auf diese Art seien wissenschaftliche Zusammenhänge leichter zu konsumieren. Dieser Glaube allerdings beruht auf dem Irrtum, dass wirkliches Verstehen mit der angenehmen Illusion, informiert zu sein, verwechselt wird.

Das fand ich überaus gelungen formuliert, ein Zusammenhang, der aktuell ist, und in die aktuelle Debatte passt, in der es um den Unterschied von Tatsachen und Meinungen geht. Beim Zusammenhang von „verstanden haben“ und „informiert sein“ geht es vor allem um die grundsätzlichen Überlegungen, wie digitale Medien unser Leben verändern. Es geht um Chancen und Risiken digitaler Technik, um ihre Präsenz in zunehmend allen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens, – und um die Konsequenzen. Und dabei geht’s naturgemäß auch um Bildung.

Die digitale Transformation ist eine Entwicklung, die global ist, alle Lebensbereiche umfasst, als modern, umfassend, attraktiv, und zeitgemäß daherkommt, sie hat Suchtpotenzial, verheißt Erleichterung und Bequemlichkeit im Alltag, sie hat einen regelrechten Hype entfacht, und entwickelt eine quasi revolutionären Dynamik, bei der widerständig zu bleiben immer schwerer fällt.

Die Erfahrungen der Corona-Pandemie bewirken eine merkliche Aufspaltung in Digitalisierungs-Enthusiasten und dem analogen Kontrapunkt. Zum Beispiel weisen Lembke und Leipner in ihrem 2015 erschienen Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“ nach, dass Tablets und Smartphones im Unterricht zu einer Art „bulimiehaftem Lernverhalten“ führen. Inhalte würden schnell und kontextfrei auswendig gelernt, in der Prüfung „ausgekotzt“ und sofort wieder vergessen. Manfred Spitzer, Psychiater und Leiter der Psychiatrischen Uni-Klinik in Ulm, meint kritisch: „Menschen downloaden nicht, sondern sie beschäftigen sich mit etwas. Und je tiefer, je intensiver sie sich mit etwas beschäftigen, desto mehr bleibt hängen. Ein Computer hat einen Chip, der verarbeitet Informationen. Unser Gehirn hat einfach nur Nervenzellen. Und die verarbeiten Informationen. Und dadurch, dass sie das tun, ändern sich die Verbindungen zwischen ihnen. Und das ist der Speicher. Wenn ich Informationsverarbeitung nicht im Gehirn, sondern im Computer betreibe, hat das Gehirn nichts gelernt.“ Und Martin Korte, Neurobiologe an der TU Braunschweig, meint: „Die Digitalisierung hat das Gehirn verändert. Sie hat ihm die Klarheit des Denkens geraubt.“

Also, bei all den guten Erfahrungen, die aktuell auch mit dem Einsatz digitaler Technik gemacht werden, bleibt doch ein gehöriges Maß an Skepsis, das, wissenschaftlich relevant, uns hilft, den Blick zu schärfen. Halt! das ist KEIN sozialpädagogischer Klischee-Abwehr-Reflex, es ist KEIN technikfeindliches Lamento, und es wird auch nicht der Untergang des Abendlandes beschworen. Es ist vielmehr ein konstruktives Abwägen, um die Entwicklung verantwortungsvoll zu gestalten.

Das ist vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung, auch notwendig, wie einige Aussagen aus  dem aktuellen Bericht der OECD 2019 zum Thema „Die Zukunft der Arbeit“ zeigen:

  • 46% aller Jobs werden sich radikal verändern, oder komplett automatisiert werden.
  • Die Digitalisierung schafft nicht nur viele (einfachere) Jobs ab, sie schafft auch viele (anspruchsvollere) neue. Aber: Viele Arbeitskräfte haben nicht die richtigen Kompetenzen für die neuen Arbeitsplätze.
  • Weiterbildung sollte besser auf benachteiligte Gruppen ausgerichtet werden. Aktuell profitieren die ohnehin besser gebildeten Arbeitskräfte von Weiterbildung, weil sie sich intensiver darum bemühen. Wie kann Weiterbildung für die Geringqualifizierten attraktiver werden?!
  • Atypische Beschäftigung ist kein Randphänomen: Jeder 7. ist selbständig, jeder 9. befristet beschäftigt. Sie sind 50% seltener gewerkschaftlich organisiert, und erhalten in einigen Ländern der EU 50% weniger Lohnersatzleistungen, z. B. bei Arbeitslosigkeit.
  • Die Zukunft der Arbeit erfordert neue Formen des Sozialschutzes.

„Alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt“, meinte Telekom-Chef Höttges einst, in Anlehnung an die Aussage der früheren Hewlett Packard – Chefin Fiorina: „Alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert…“ Dieser Trend ist nicht nur ungebrochen, er hat eine geradezu revolutionäre Dynamik entwickelt. Harald Welzer sprach vom „Glück, weniger doofe Arbeit machen zu müssen!“ Digitalisierung wird entweder verwendet, um etwas ganz neu zu gestalten, oder um etwas zu beschleunigen, um etwas einzusparen (Prozessschritte, Material, Menschen), z. B. Beratung bei Banken, Anamnese bei Ärzten, Selbstbeurteilung bei Mitarbeiterbeurteilungen.

Die Digitalisierung führt dazu, dass sich unser gesellschaftliches Zusammenleben grundlegend verändert. Die menschliche Arbeitskraft wird in vielen Bereichen unwichtiger, wir können flexibler und ortsunabhängiger arbeiten, und brauchen dafür nur WLAN und Computer. Das Lernen verändert sich gravierend. E-Learning, Webinare oder Videotutorials schießen wildwuchsartig aus dem unternehmerischen Boden, und versprechen, Weiterbildung deutlich flexibler, zugänglicher, schneller, und – kostengünstiger zumachen! In dieser Welt also ist Digitalisierung eine Art Heilsbringer, die Methode schlechthin, mit der man das Ganze „in den Griff bekommt“! Die Illusion von Kontrolle lässt sich nunmal nicht ausrotten! Damit sind die Koordinaten für eine politische Agenda skizziert. Digitalisierung ist also keineswegs nur eine technische Entwicklung, sondern vor allem auch eine politische Herausforderung, sie betrifft jede und jeden, und damit die demokratische Gesellschaft.

„Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben?“ frug der amerikanischer Schriftsteller T. S. Eliot bereits 1934. Diese Fragen führen mich zur Kritik an der aktuellen digitalen Entwicklung. Es gibt veritable Erkenntnisse, die begründeten Zweifel an der aktuellen Entwicklung nahelegen:

Zuviele Informationen gleichzeitig stören das Denken .. und beeinträchtigen die Gesundheit:

  • 88x am Tag schauen Menschen aufs Hany
  • 35x kurz, 53x länger
  • 15’ braucht das Gehirn, um sich auf eine neue kognitive Situation einzulassen
  • Seit Einführung des Smartphones nehmen Depressionen, Schlafmangel, Einsamkeit zu.
  • Jugendliche klagen zunehmend über Kopfschmerzen.
  • Ein Viertel der Bevölkerung ist adipös, weil im Zuge der Digitalisierung sich Menschen signifikant weniger bewegen.

Automatisierung führt zu einem Verlust an Kompetenz .. und verstärkt Abhängigkeiten:

  • Die Gesellschaft ist von der Zuverlässigkeit digitaler Infrastrukturen inzwischen existenziell abhängig. Hackerangriffe und Schadsoftware bedrohen heute nicht nur die Stabilität von Finanzmärkten, sondern auch Wasser-, Strom-, Mobilität – und Nahrungsmittelversorgung.
  • Durch Navigationssysteme regrediert unser räumliches Vorstellungsvermögen.
  • Wenn wir Lernprozesse nur beobachten, anstatt aktiv uns zu beteiligen, reduziert das unsere Lernfähigkeit, und den Erwerb von Kompetenzen.
  • Das Rekapitulieren des Lernstoffs ohne Hilfestellung ist anstrengend, wird aber vom Gehirn belohnt durch tiefere Erkenntnis, und Speicherung im Langzeitgedächtnis.
  • Individuell erzeugen die vielen technischen Mittel eine beinahe schon selbstverständlich gewordene Bequemlichkeit.
  • Beides, Abhängigkeit und Bequemlichkeit, reduziert die Resilienzfähigkeit, also die geistige Flexibilität und psychische Widerstandskraft.

Digitale Technik verstärkt Ungleichheit:

Darin sind sich alle Wissenschaftlicher einig, die sich mit dem Thema beschäftigen. Allerdings besteht eine kontroverse Auseinandersetzung darüber, warum das so ist! Die einen suchen den Grund eher in Globalisierungsthemen und ökonomischen Prinzipien. Die anderen schauen eher auf die Technik, denn es sei vor allem die Digitalisierung, die die Ungleichheit vorantreibt:

  • Die Digitalisierung belohnt die Gebildeten, weil sie alte Berufe und Tätigkeiten überflüssig macht, und durch hochwertigere ersetzt, für die mehr und andere Fähigkeiten nötig sind.
  • Die Unternehmensbesitzer profitieren zunehmend mehr von der Digitalisierung, weil Produkte beliebig vervielfältigt werden können, und keine zusätzlichen Angestellte dafür gebraucht werden. Der Profit eines Unternehmens geht nachweisbar seit dem Jahr 2000 zu einem größer werdenden Teil an die Besitzer von Unternehmen, statt an die dort Beschäftigten.
  • Je mehr wir wissen, desto differenzierter sehen wir die Welt: Ungefilterte Informationen ohne Vorwissen stärken Stereotypen, und Denken in Schwarz-Weiß-Mustern.
  • Intensive Internetnutzung führt zu einer laxen kognitiven Verarbeitung, bisweilen auch zu einer Abnahme des Empathievermögens.
  • Eine Anhäufung von Informationen ist kein Wissen.
  • Um Wissen zu verstehen, braucht man Vorwissen.
  • Um Wissen einzuordnen, und daraus Entscheidungen abzuleiten, braucht es Bildung.

Vor allem Martin Korte, der Biologe, der das menschliche Gehirn erforscht, um über unser Lernen und Erinnern bessere Erkenntnisse zu gewinnen, fand ich beeindruckend. Er formuliert recht drastisch eine Korrelation, also eine Beziehung zwischen Lernen und Verstehen und dem Einfluss digitaler Medien. „Die digitale Welt hat dem Gehirn die Klarheit des Denkens geraubt“, ist eine wichtige grundsätzliche Aussage. Ergänzt durch die Erkenntnis, dass die Fähigkeit zur Konzentration messbar abnimmt, zieht er ein wachrüttelnde Konsequenz: Wenn die Fähigkeit abnimmt, komplexe Zusammenhänge zu durchdenken, die aktuellen und künftigen Probleme aber ein steigendes Maß an Komplexität aufweisen, dann werden in absehbarer Zeit Menschen politische Verantwortung tragen, die intellektuell dazu nicht mehr in der Lage sind.

Das ist eine Entwicklung, die längst das Stadium einer Hypothese verlassen hat, und zur aktuell beobachtbaren Tatsache geworden ist!

Der komplette Essay ist hier nachzulesen: ZEIT IQ-Forschung Korte et al.

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