Flanerie als Kunstform?!

Zeit haben, sich treiben lassen, Luft holen können zwischen Terminen, ganz wenige Termine überhaupt haben, wenige Autos auf den Strassen, fast keine Flieger, stundenlang Stille, wie zu Zeiten des Sendeschlusses im Fernsehen, keine Besuche, auch nur wenig mehr digitale Kommunikation, – Corona bringt Zeit. Umgehend, plötzlich, erschreckend schnell, völlig unvorbereitet, quasi von jetzt auf gleich vollkommen aus der „Kurve der Alltagsroutinen“ getragen. Es entwickeln sich bemerkenswerte Verhaltensweisen, z. B. die, einem Musikstück vollständig zu lauschen, oder in einem Buch zu versinken, Gespräche auszudehnen um Argumente tiefer zu durchdringen, Wohnung aufzuräumen, Garten in Schuss zu bringen, neue Leidenschaften zu entdecken, aus der Kompensation eine Tugend zu machen, kreativ zu werden, sich einer Sache mit Muße zu widmen. Beispielsweise das erstaunte Feststellen, dass die Tätigkeit, die üblicherweise in der Werbepause erledigt wurde, jetzt eine innerfamiliäre Strukturreform provoziert! Vieles muss jetzt, nein, vieles darf jetzt neu geregelt werden!

Der gemeine Spaziergang erfährt in diesem erzwungenen Innehalten eine wundersame Renaissance. Und das Nachdenken darüber, warum das eine für unsere soziale Bindung sehr gute Entwicklung ist, bringt mich auf die Begriffe Müßiggang und Flaneur. Der Volksmund, die dumme Schnauze, sieht im Müßiggang die Wurzel allen Übels, sei der doch „aller Laster Anfang“. Bertrand Russell schrieb in seinem „Lob des Müßiggangs“: „Bei dem Stand der modernen Technik wäre es möglich, allen Menschen Freizeit und Muße gleichmäßig zuzuteilen, ohne Nachteil für die Zivilisation.“ An dieser Aussage hat sich bis heute nicht nur nichts verändert, es ist sogar noch einfacher geworden! Es konnte aber damals nicht umgesetzt werden, weil die bourgeoise Gesinnung der Machthabenden es stets als unerträglich empfunden hat, auch den Unbemittelten Freizeit und Muße zu gewähren, wie Russell klar erkannte. Das gilt heute noch unverändert. Das Leistungsprinzip und der Mythos, Arbeit als abhängige Beschäftigung sei Sinn stiftend, sind auch heute noch das Fundament der Ethik, die eine kapitalistische Wirtschaftsordnung stabilisiert.

Russell schrieb, wie Einstein auch, gegen die „Sklavenmoral der Arbeit“ (F. Nietzsche) an. Er steht damit in der Tradition des Neuhumanismus, als Friedrich Schiller in seinen “Briefen zur ästhetischen Erziehung“ das „Joch des Nutzens“ anprangerte, dem alles unterzuordnen sei, und das die Menschen zu „Schlachtopfern des Fleisses“ mache.

In dieser Tradition steht auch Walter Benjamin, der als Teil der sog. Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie Technik, Kunst und Alltagsphänomene reflektierte. Den müßigen Spaziergänger bezeichnete er als einen Flaneur. Ein Flaneur, ich bin mir nicht sicher, wie das korrekt ‚gegendert‘ heißen muss, ist eine Mann, der, in der Regel stilvoll gekleidet, sich durch die Strassen und Gassen treiben lässt. Ziel -und planlos schlendert er an den Sehenswürdigkeiten einer Stadt vorbei, nimmt die Geräusche auf, bleibt aber distanziert.

Das Geschäft des Flaneurs ist das Beobachten, Straßen werden ihm zur Wohnung. Diese Haltung konnte umso leichter entwickelt werden, als ihr die moderne Architektur eine Art Vitalisierungsschub verpasste. Die belebten Innenstädte wurden überdacht, Drinnen und Draußen glichen sich an. Es entstanden die Passagen, ohne die die Flanerie niemals zu ihrer Bedeutung gekommen wäre.

Solches Flanieren hat naturgemäß überhaupt nichts mit dem Besuch eine Shopping Mall zu tun. Shopping, also der Besuch eines Einkaufszentrums, ist grundsätzlich mit dem Gedanken des Kaufens verknüpft, auch wenn tatsächlich nichts gekauft würde. Das macht es zu etwas grundlegend anderem als das Flanieren. Walter Benjamin hat den Unterschied mit der folgenden Beschreibung noch klarer formuliert:

„Ich suche nach dem bärtigen Apoll unseres Kinderspielplatzes. […] Ich finde ihn nicht, ich gerate an den Goldfischteich. (…). Durch einen Seitenweg schimmert von der Siegesallee herüber ein Stückchen Markgraf. Ich laß’ es von fern locken, werde mich wohl hüten, hinüberzugehen […] Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich zur Rousseau- oder Luisen-Insel kommen werde. Und glücklich verirrt, stehe ich mit einmal vor dem Apoll, den ich nie wiedergefunden habe seit Jahren.“

Das ist es, was den Reiz der Flanerie ausmacht: Nur durch das bewusste Inkaufnehmen des Verirrens kann der Flaneur letztendlich das finden, was er sucht. Gelassenheit, Großzügigkeit, eine insgesamt laisser-faire Haltung sind dafür notwendig. Für Walter Benjamin ist der Flaneur die zentrale Figur der Moderne.

Und vor diesem Hintergrund habe ich, in dieser Zeit, in der wir viel Zeit haben, die nicht schon verzweckt ist, an den Flaneur gedacht. Ich bin davon überzeugt, dass uns Menschen mehr Flanerie gut tun würde. Immerhin hatten wir in den letzten Wochen reichlich Gelegenheit, uns in der Kunst des Flanierens zu üben. Zu meinem Wohlbefinden, und zu unser aller Frommen, wie Bertrand Russell richtig erkannte: „Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, der Übermüdung und der schlechten Verdauung.“

Von Gero von Randow gab es bereits 2016, also noch völlig Corona-unabhängig, einen hellsichtigen Text, den er in der ZEIT veröffentlichte. In diesen Zusammenhang passt ein Buch von Gernot Böhme mit dem Titel „Ästhetischer Kapitalismus“. Diese Rezension der „kulturbuchtipps“ macht neugierig!

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