Konsum sucht Sinn!

Gewissheiten lösen sich auf, alte Regeln gelten nicht mehr, neue sind noch nicht vereinbart, die Frage „Brauch‘ ich das?“ drängt sich von der unterbewußten Ebene des schlechten Gewissens mit Macht in den Vordergrund, und macht dort als konkretes Verhalten die Grenzen des Wachstums sichtbar. Dieses System kommt an seine Grenzen, es kippt. Jedenfalls möchte ich die aktuelle Situation gerne so interpretieren. Ich weiß genau, dass gerade heute Sigmar Gabriel die Corona-Pandemie als eine Art „Brandbeschleuniger“ für all die Verhaltensweisen bezeichnet hat, die uns alle in diese katastrophale Situation gebracht habe. Assistiert wird ihm dabei von Harald Welzer, der, wiewohl eigentlich sehr hoffnungsfroh, den Optimismus dieser „Krise als Chance“ auch nicht teilt: „Die Leute sind die Leute, vor und nach Corona“. Nun ja.

Trotz alledem bin ich eher geneigt, die aktuelle Situation hoffnungsfroh kapitalismuskritisch zu interpretieren. Der Konsum geht signifikant zurück, weil die Menschen auf die eingangs gestellte Frage immer öfter und ganz selbstbewußt mit „NEIN, das brauch‘ ich nicht!“ antworten. Die sog. Anschaffungsneigung der Verbraucher befindet sich im freien Fall, so wird im ersten  Artikel im Anhang („Brauch‘ ich das?“) formuliert. Und da Kapitalismus ohne Konsum, ja sogar nur mit eingeschränktem Konsum, nicht überleben kann, werden wir uns etwas neues überlegen müssen. Das mythische Verlangen, Sachen zu kaufen, die keiner braucht, hat einen erheblichen Dämpfer erfahren. Selbstverständlich ist dieses Verlangen kein natürliches, es ist künstlich erzeugt! Hoffentlich liegt in dieser Erfahrung ein Grundstein für eine Emanzipation vom gedankenlosen Konsum. Wir sollten unser Denken und unsere Sensibilität wieder für unsere eigenen Zwecke nutzen, anstatt sie, Trash-TV-umnebelt, an der Eingangstür der Einkaufszentren abzugeben.

Was mir umstandslos einleuchtet ist, dass es in dieser neuen Situation neue Regeln, neue Verabredungen braucht. Und auch wenn es aggressive Diskutanten gibt, die ihren Kontrollfetischismus in der Schlange vor dem Metzgerwagen auf dem Markt lautstark zum Ausdruck bringen, und sch damit unmittelbar als Gesprächspartner disqualifizieren, so habe ich doch den Eindruck, das wir Menschen durchaus eine anpassungsfähige und lernbereite Spezies sind. Wir sollten es auch gebacken kriegen, ungeduldig vordrängelnde Mit-Konsumenten (übrigens oft ältere Männer) mit Nachdruck auf den korrekten Schlangenplatz zu verweisen. Aber all das will eingeübt sein, damit eine veränderte soziale Praxis mit verzögernden Abläufe, und kommunikativen Hindernissen wie eine MundNasenMaske irgendwann zur neuen Normalität werden kann.

Wahrscheinlich wird uns das gut tun, wenn wir schließlich feststellen, dass wir auch ganz ohne den inneren Blockwart, wie der Autor im zweiten angehängten Artikel („Ende der Gewissheiten“) es bezeichnet, ganz gut miteinander sprechen und uns einigen können. Denn immerhin ist die Sprache ja mehr als nur die Weitergabe von Informationen. Das ist eklatant spürbar, wenn, wie zur Zeit, bestimmte Kommunikationskanäle, wie z. B. Gestik oder Mimik, eingeschränkt sind. Ich hoffe auf den befreienden Aspekt, wenn Kommunikation wieder alle Möglichkeiten nutzen kann, die grundsätzlich zur Verfügung stehen. Die aktuelle Defiziterfahrung sollte uns eine Lehre sein!

Die beiden ZEITonline-Artikel finden Sie hier: Brauch ich das?, und Ende der Gewissheiten

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