„Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat!“

„Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat“! Ich weiß, dass ich das schon oft zitiert habe. Na und?! Ich habe gerade einen aktuellen Anlass, wieder daran zu denken. Der Anlass heißt Moria, und ist ein Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. War, muss man inzwischen sagen, denn es ist abgebrannt. Unabhängig davon, wie das passieren konnte: Die Existenz solche Lager wie Moria ist der Ausverkauf der vielgerühmten europäischen Werte. Die Tradition der Aufklärung, allgemeine Bildung für alle, Mündigkeit als Ziel, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, – all das hehre Ideen, uns Menschen angemessen, Grundsätze für ein gelingendes soziales Miteinander.  Sie sind das Fundament, auf das wir unser gemeinsame Haus gebaut haben. Diese Werte sind die „conditio sine qua non“ unseres Zusammenlebens, die Bedingung, ohne die das undenkbar ist! Und dieses Wertefundament verglüht im Feuer von Moria, Asche auf einer Insel in der Ägäis. Ein Lager voller Menschen, obdachlos, ohne angemessene Infrastruktur, im Dreck, mit Corona, ohne Perspektive, ohne Hilfe! In existenzieller Verzweiflung, die jetzt mutmaßlich zu diesem Brand geführt hat. Wir werden uns neu orientieren müssen.

In der Konsequenz meint das natürlich nicht, die Werte der Aufklärung dranzugeben. Das hieße, vor dem politischen Pragmatismus kapitulieren. Aber sagen, was ist, bleibt eine Notwendigkeit. Nur viel lauter, penetranter, nerviger, solidarisch im Verbund mit anderen, so dass die einzelnen Stimmen sich zu einem voluminösen Chor zusammenfinden, der, nach einer kakophonen Findungsphase, zu einem unüberhörbaren vielstimmigen Einwurf wird, aufrüttelnd, mahnend, dauerhaft.

Ich weiß genau, dass es sehr schwierig ist, sich mit vielen darauf zu einigen, wo es gemeinsam hingehen soll. Eine gute Herangehensweise ist es allerdings, sich zunächst darauf zu einigen, was man auf keine Fall mehr will. Und dabei gibt es doch einiges, was sinnstiftend wirken kann. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die es zulässt, dass Menschen in Sichtweite sterben, ohne zu helfen. Oder mit Nationalstaaten zusammenarbeiten, die die Menschenrechte missachten. Ich möchte Nationalismus überwinden, halte den Kapitalismus für ein System, das tötet, und den Lobbyismus für eine Art „Sargnagel der Demokratie“. Ich bin fest davon überzeugt, dass zu Meinungsfreiheit auch die Pflicht gehört, vor ihrem Gebrauch sorgfältig nachzudenken, – und manchmal besser den Mund zu halten! Es gibt viele Kritikpunkte, in denen sich eine Übereinstimmung ohne Probleme herstellen ließe, da bin ich sicher.

Gleichwohl, die Erfahrung mit dem brennenden Flüchtlingslager macht mich sprachlos. Zorn wird dann daraus, wenn ich Kommentare höre, wie den  der hessischen Europapolitikerin Lucia Puttrich, die meinte: „Dieser Gewaltausbruch einiger darf nicht belohnt werden. Weder durch eine Verlegung in andere europäische Länder noch bei der Dauer oder dem Ergebnis des Asylverfahrens“. Eine unglaubliche Äußerung, zynisch und völlig frei von Empathie. Jemandem in einer solch herausragenden Position darf das nicht passieren, es disqualifiziert für diese Aufgabe auf ganzer Linie. Wenn Menschen in Not sind, muss man helfen, egal, aus welchem Grund sie in diese Situation geraten sind! 

Eklatant ist der Widerspruch zwischen Anspruch und tatsächlichem Verhalten vor allem natürlich bei den Parteien mit einem „C“ im Namen. Die Befürchtung, die neue Rechte könnte eine Hilfeleistung als Einfallstor für Wahlkampfzwecke missbrauchen, verhindert eine solche notwendige Hilfe, ein zynischer Grund! Wenn dann der Innenminister trotzdem von Nächstenliebe spricht, und damit die Bereitschaft meint, einige wenige hundert Menschen aufzunehmen, dann ist das eine bodenlose Unverschämtheit. Die Vorstellung, wie man behandelt werden möchte, säße man selbst in Moria, spielt keine Rolle mehr, der Respekt vor dem Leben ist verloren gegangen, die Verlautbarungen politischer Parteien sind sinnentleerte Worthülsen! Sie leisten dem Erstarken rechter Gruppierungen Vorschub, sie zersetzen den demokratischen Grundkonsens, das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen! 

Abgesehen davon ist der Brand von Moria aber auch ein Fanal für das Versagen aller Menschen in Europa. Denn die herrschende politische Klasse, zumindest die politischen Repräsentant*innen, – die haben wir gewählt!!!! Keiner kann sagen, er habe von nichts gewußt, zu wenige kümmern sich konsequent, den meistens geht das, wahrscheinlich, am Arsch vorbei. Der Vorwurf des zynischen Wegduckens trifft uns deshalb alle. Vor diesem Hintergrund ist das heftige Aufleben von Solidarität und Empathie während der Corona-Pandemie wohl auch nur ein Strohfeuer gewesen, und die Hoffnung auf eine „neue Normalität“ nach Corona ein Hirngespinst. 

Trotzdem: Es lohnt sich, dafür zu kämpfen! „Standhalten im Dasein“ hieß ein programmatischer Buchtitel von Hans-Jochen Gamm, wegweisender Pädagoge der Uni Darmstadt, mit Wurzeln in der Kritischen Theorie. „You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one…“ sang einst John Lennon. Es wird Zeit, laut zu sagen, was ist!

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