„Wohin mit dem Zorn?“

Was aktuell über Corona-Tests und die berühmte Corona-App aus Regierungskreisen verlautbart wird, ist ärgerlich. Es ist eine Frechheit, wenn ich bedenke, dass in einem ganzen Jahr der Pandemie die verantwortlich Regierenden immer noch keine umfassende Teststrategie aufgebaut haben. Die Aussage der Bundeskanzlerin, dass das noch sicher bis Ende März dauernd wird, ist ein Offenbarungseid. Es lässt uns vielleicht nicht zu Wutbürgern werden, aber zu Grollbürgern, meinte Sacha Lobo, irokesenbewährter Spiegelkolumnist. Es spiele auch keine Rolle mehr, ob kompetenzrangelnder Föderalismus in Form kooperationsunwilliger Ministerpräsident:innen, eine starrköpfige Bürokratie, wankelmütige Einschätzungen des Pandemieverlaufs, parteipolitisches Gezänk oder „das jahrzehntelange deutsche Digitalisierungsdebakel“ der Grund für dieses Versagen sei. Von allem etwas. Und Überraschungen.

Die zentrale Frage lautet seines Erachtens: „Wie kann man ein ganzes Jahr lang aus Erfolgen anderer Länder und Regionen nicht lernen?“

In der Tat sieht es so aus, dass die politischen Repräsentant:innen irgendwie lernresistent sind. Die aktuellen Fragen sind die alten, die aktuellen Probleme auch, die Gründe, warum es nicht klappt, auch. Impfstoff wird unglaublich schnell entwickelt und geprüft und zugelassen, was für die Qualität der Wissenschaft spricht. Dass der Impfstoff nicht genauso schnell verimpft wird, spricht für die desolate politische und bürokratische Organisation. Und das gilt für ganz Europa. Überhaupt Europa. Es wird mir nicht leicht gemacht, für ein Europa als erstrebenswertes Konstrukt nach wie vor einzutreten.  Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass eine „Republik Europa“ eine sinnvolle Perspektive ist, um die aktuellen Probleme auf dieser Welt zu lösen. Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, die Werte der Aufklärung, Mündigkeit — es war noch nie leicht, dafür einzutreten. Aber immer vernünftig. Das ist es noch, es kostet aber zunehmend mehr Kraft! Und es wäre ganz hilfreich, wenn mein Kraftreservoir zwischendurch mal wieder aufgefüllt werden könnte. Beispielsweise durch politisch überraschend sinnvolle Interventionen wie einen schnelle und unbürokratische Tarifanpassung für alle Pflegekräfte. Oder die Entscheidung, Krankenhäuser nicht mehr wie Unternehmen zu führen. Nun ja. In Zeiten der Pandemie jedenfalls sollten die Erfahrungen doch schmerzhaft genug gewesen sein, um dem alten Victor Hugo recht zu geben: „Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist!“

Das aktuelle Politikversagen ist ein Schlag ins Demokratiekontor, es öffnet populistischen und vereinfachenden Lautsprecher:innen (gerne gegendert!) Tür und Tor, es macht denen das Leben leichter. Sie finden Gehör für ihre autoritären Hilfsangebote, und propagieren einen Weg zurück in alte Denkmuster, national, begrenzend, chauvinistisch, ignorant.

Impfen, Testen, Warn-App, Digitalisierung der Schulen, Pflegekräfte, Krankenhäuser, Maut, Finanzhilfen für Selbständige, Massentierhaltung, Pharmaindustrie, Lobbyismus — es gibt wahrlich viele Themen, die jeden kritisch mitdenkenden Menschen zornig machen. Zu recht!!! Doch sind es so viele Themen, das auch der Zorn quasi schon aufgebraucht ist. Georg Schramm meinte, man solle sich nichts über alles gleich aufregen, sondern einen Zorn auf die Zornbank tragen. Und warten, wie sich das Zornkonto vermehrt. Da liegt jetzt schon ganz schön viel Zorn rum. Wohin damit? Wenn sich all der Zorn unkontrolliert entlädt, haben wir eine andere Republik. „Denkende Menschen werden nicht wütend“ meinte einst Adorno, denn die können ihren Zorn sublimieren, ihn konstruktiv nutzen. Aber selbst denen, die das können, fällt es zunehmend schwerer. Dumpfer Groll, tiefe Resignation, Müdigkeit ersetzen schon allzu oft Begeisterung, Zuversicht, Interesse, Offenheit.

Bei mir ist es zwar längst nicht soweit, ich bin einigermaßen leidensfähig. Aber auch bei mir zehrt die offensichtliche politische Inkompetenz an den Nerven. Am meisten auf den Wecker geht mir die Entwicklung im Netz, der offen hasserfüllte Ton, der zum normalen Umgangston wird und die offensichtliche Unfähigkeit zum konstruktiven Streit, die unter der dumpfbackigen Attitüde eines „das-wird-man-ja-noch-sagen-dürfen“ verschwindet. Ja natürlich ist nicht jeder, der die aktuelle politische Lage kritisiert, ein sog. Verschwörungstheoretiker, oder gar ein Nazi. Aber wenn es dabei bleibt, sich wechselseitig im meinungsfrohen Draufhauen zu bestärken, dann verheißt das nichts Gutes für die Entwicklung einer stabilen Demokratie. Bei allem verständlichen und geteilten Misstrauen: Kritische Menschen suchen nach gemeinsamen Lösungen. Es ist an der Zeit!

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