Anlass ist der 08. Mai, der sich zum 75. Mal jährt. „Tag der Befreiung“ nannte Weizsäcker das Kriegsende in seiner berühmten Rede 1985, zu einer Zeit also, als es noch eines gewissen Mutes bedurfte, dieses Datum öffentlich und aus Überzeugung so zu bezeichnen. Es war damals noch nicht unbedingt die Meinung der Mehrheit der Menschen in Deutschland. Deshalb Danke, Richard von Weizsäcker. Diese Zäsur war nicht nur das Ende des Krieges, sondern ist, wie jedes Ende, auch ein Neuanfang nach schlimmen Zeiten!
Die Erinnerung daran halte ich für überlebensnotwendig für unser soziales Geflecht in Deutschland. Nur die Erinnerung daran kann uns beispielsweise bewußt machen, was alles passiert ist in den letzten 75 Jahren. Wie nah wir uns in Europa gekommen sind, wie grenzenlos unsere Nachbarschaft wurde. Diese Richtung stimmt, davon bin ich überzeugt. Umso ärgerlicher bin ich, wenn ich merke, dass gerade in Krisenzeiten, in denen die Stabilität von Strukturen und Mechanismen sich erweisen muss, dieses Europa in einem äußerst fragilen Zustand zu sein scheint. Es macht gerade keinen wirklich guten Eindruck! Nationale Abschottung ist nunmal keine wirkungsvolle Strategie im Kampf gegen die Pandemie, die Zuflucht zu autoritären Staatsführern ist immer eine Illusion, die mit dem berechtigten Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit Schlitten fährt, ökonomische Fragen und deren Konsequenzen wie z. B. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit, müssen wir, in unser aller Interesse, international bearbeiten, europäisch lösen. Die Werte der Aufklärung, des demokratischen und solidarischen Miteinanders, sollen das europäische Fundament bleiben, und nicht auf dem Altar von Sicherheit, Nationalismus und Profit geopfert werden.
Mein Blick in die Gesellschaft bleibt skeptisch. Warnend, aber auch zuversichtlich mahnte Brecht:
„So was hätt‘ einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr,
jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Eine Einstellung, der ich mich immer schon verpflichtet fühlte, und immer noch fühle. „Standhalten im Dasein“, titelte einst Hans-Jochen Gamm, gespeist aus den Gedanken und Ideen der Kritischen Theorie, – er gab meiner Einstellung ein Fundament. Standhalten ist auch jetzt notwendig, angesichts eines anschwellenden Bocksgesangs, die aktuellen Maßnahmen seien nicht anderes als staatlich gelenkte Freiheitsberaubung, die Wissenschaft sei sich uneins, und deshalb nicht vertrauenswürdig, die Politiker*innen seien ohnehin Vasallen der amerikanischen Hegemonie, etc. pp. Welch ein Unfug aktuell zu lesen ist, und in welch einer Sprache dieser Unsinn verzapft ist, es macht mich bisweilen sprachlos. Ohnmächtig. Aber nur kurzzeitig! Nach dieser Schwächephase klärt sich das Denken schnell, der Zorn kehrt zurück, und richtet sich auf das, was wir statt dessen brauchen: Solidarität, soziales Handeln, kulturelles Engagement, europäisches Denken. Eine Gesellschaft, die sich mehr Gedanken darüber macht, wie sie die Spargelernte sicherstellen kann, als über das Sterben im Mittelmeer, war noch nie normal, schrieb kürzlich Samira El Quassil, Kolumnistin bei Spiegel-online. Sie hat recht!
Wir befinden uns in einem Zustand der Entschleunigung, den wir nutzen müssen, um uns neu zu erfinden, meinte Hartmut Rosa. Dabei hilft der Gedanke an eine europäische Republik, wie sie beispielhaft von Ulrike Guérot formuliert wurde. Internationale Zusammenarbeit heißt der Rahmen, der notwendig ist, wollen wir die anstehenden Probleme für uns alle lösen. Die Komplexität dieser Aufgaben lässt keine solistischen, nationalen Lösungen zu. Wir sollten anfangen, in diesem Sinne verantwortungsvoll mit uns und unserem sozialen Zusammenleben umzugehen. Der 8. Mai 2020 ist dafür ein richtig guter Anlass!
Ergänzung durch einen Text von Ulrike Guérot zum Thema Europa als Republik