Na ja, brauchen. Beim Nachdenken über Corona und die Folgen drängeln sich immer wieder ganz aktuelle Erfahrungen in die Gedankengänge, lästig, weil sie unterbrechen, nervtötend, weil ich auf sie irgendwie reagieren muss, tröstend, weil sie mir zuverlässig eine notwendige Korrekturinstanz sind. Sie erden mich, bringen meine Gedanken in Ordnung, wenn man so will.
Die Realität, so jedenfalls meine Wahrnehmung, strebt mit Macht, Nachdruck, Verve, und frei von störender Grübelei in den status quo ante, in den Zustand der „alten Normalität“, wie der Zukunftsforscher Matthias Horx es nannte. Wenn die Corona-Zeit aber einen Nutzen haben soll, dann doch die mit ihr verbundene Erkenntnis, dass es so, wie es war, nicht gut war! Es war der Weg in die Katastrophe, am Mohrrüben-Gängelband des Wachstumsdogmas. Amartya Sen, der aktuelle Friedenspresiträger des Deutschen Buchhandels, wird aktuell mit der Aussage zitiert, dass Menschen nicht am Hunger, sondern an Armut sterben. Das globale Klima ist in einem katastrophalen Zustand, resistente Viren überspringen die Tier-Mensch-Schranke, weil wir Menschen in unserem unmäßigen Ressourcenverbrauch alles vernichten, was uns vor die Hände kommt. Es spielt eine existenzielle Rolle, unsere Art des Wirtschaftens grundlegend auf einen schonenden Umgang mit unseren endlichen Ressourcen umzustellen. Damit würden wir Verantwortung für unsere Zukunft und die der nachfolgenden Generationen übernehmen. Und die Zeit drängt!
Was das alles mit der Sozialdemokratie zu tun hat? Alles. Die Wurzeln dieser Partei liegen fest in der humanistischen Tradition von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verankert. Diese Gesellschaft verdankt dieser Tradition und den Menschen, die sie verkörperten und es immer noch tun, sehr viel hinsichtlich einer dynamischen Balance des sozialen Gleichgewichts. Ihre Tradition war immer international ausgerichtet, interdisziplinär war ihre Vorgehensweise, der Dialog mit Menschen außerhalb der Partei hatte, wie auch die Integration von Kunst und Kultur in das politische Wirken, eine fundamentale Bedeutung. Eine gerechtere Gesellschaft mit mehr Teilhabe am gesellschaftspolitischen Wirken war fester Bestandteil sozialdemokratischer DNA. Getragen wurde diese Partei immer wieder von charismatischen Menschen, die authentisch für diese Überzeugungen warben, und stritten.
Wenn Warren Buffet sich zitieren lässt mit der Aussage, es herrsche Krieg zwischen Arm und Reich, und sich dieses Phänomen seit Jahrzehnten tatsächlich beobachten lässt, dann braucht es auch entsprechende Reaktionen seitens einer Partei wie der SPD, die in einer solchen Tradition steht. Welche Partei sonst, wenn nicht die SPD, hätte die Kraft, mit einer solchen Tradition im Rücken, den notwendigen ökonomischen und ökologischen Paradigmenwechsel einzuleiten? Ich sehe keine. Es beginnt, wie immer, bei einer klaren Sprache, die, Phrasen frei und ohne irreführendes Framing die Menschen verstehen lässt, und sie in die Lage versetzt mitreden zu können, getragen von einem gemeinsamen „Geist des Aufbruchs“ , – was, zugestanden, sehr pathetisch klingt.
Na und?! Kein Mensch will die alten Schlachten schlagen, die überkommenen Klischees bemühen, die Konfrontationen von früher wieder aufleben lassen. Keiner will den Begriff „konservativ“ in die rechte, oder den Begriff „progressiv“ in der linken Ecke verorten, es sind alte Etiketten, die noch nie zu mehr Klarheit beigetragen haben. Wir müssen sie schnell hinter uns lassen, und uns unmittelbar dagegen wehren, wenn, wie gestern bei Lanz, diese alte Leier bis zum Erbrechen bemüht wird! Was wir jetzt aber brauchen sind Menschen mit visionärer Kraft, die mit Charisma und Souveränität einen gesellschaftlichen Dialog anzetteln, uns mutig mit Ideen für unsere gesellschaftliche Zukunft konfrontieren, auch wenn diese Idee Verzicht bedeutet, von allem weniger! Wir brauchen also Menschen, die uns mit ihren Gedanken und Worten berühren, und die die Erfahrungen der letzten Monate aufgreifen. Wie bereits gesagt: So, wie es war, soll es nicht mehr werden: Wir müssen das Wachstumsdogma durchbrechen, und die kapitalistische Art des Wirtschaftens als Ideologie, als falsches Bewußtsein entlarven, damit der Mensch wieder zum „Täter seiner Geschichte“ werden kann, wie Heinz-Joachim Heydorn damals formulierte.
„Mit uns zieht die neue Zeit“, sangen einst Hein und Oss. Wir alle wissen inzwischen, was wir nicht mehr wollen. Mehr allerdings brauchen wir nicht, um Zukunft zu gestalten. „Das Herz schlägt links!“ meinte einst Lafontaine, und darauf sollten sich auch Grüne und Linke verständigen können.
Trotz alledem: „Es ist an der Zeit“ sang eins Hannes Wader. „Die Welt poetisieren“ sei ein revolutionärer Akt, greift Konstantin Wecker den Gedanken wieder auf. Ich teile diese Überzeugungen von Herzen. Deshalb zum guten Schluss ein Gedicht von Erich Fried:
WEGWEISER
Was mich mutlos macht
ist daß es so schwer ist
zu sehen wohin ein Weg geht
zum Recht und zur sicheren Zukunft
aber was mir dann wieder Mut macht
ist daß es so leicht ist
zu sehen wo Unrecht geschieht
und das Unrecht zu hassen
Und auch wenn es nicht leicht ist
gegen das Unrecht zu kämpfen
so verliert man dabei
doch nicht so leicht seine Richtung
denn das Unrecht leuchtet so grell
und verbreitet so starken Geruch
daß keiner die Spur des Unrechts verlieren muß
Wenn der Weg zum Recht und zur Zukunft
dunkel ist und verborgen
dann halte ich mich an das Unrecht
das liegt sichtbar mitten im Weg
und vielleicht wenn ich noch da bin
nach meinem Kampf mit dem Unrecht
werde ich dann ein Stück
vom Weg zum Recht erkennen