Toleranz hat Grenzen!

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen als handele es sich um bloße Meinungen. […] Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentleman’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankommt. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden […], sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.
Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden.“

                   Hannah Arendt: „Besuch in Deutschland“ (1950)

Ja, in der Tat, jeder hat eine Recht auf seine Meinung. Und die darf er auch äußern. Da gilt die Aussage von Voltaire grundsätzlich, wenn nicht unbedingt buchstäblich: „Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst.“ Wie weit geht Toleranz? Hat sie Grenzen? Und was bedeutet das für unsere Gesprächskultur? Muss ich mir jeden Unsinn anhören?

Selbstverständlich hat Toleranz ihre Grenzen. Wenngleich die durchaus weit gesteckt sind, immerhin kommt das Wort Toleranz von „erdulden, ertragen.“ Toleranz fordert die Kraft des ganzen Menschen, bis an dessen Grenzen der Zumutbarkeit. Und vielleicht noch einen kleinen Schritt darüber hinaus. Es wird wehtun, diesem Anspruch gerecht zu werden, die andere Meinung zu ertragen. Diese Zumutung werde ich allerdings nur dann ertragen, wenn Form und Inhalt gewahrt bleiben. Konkret: Sobald rassistische, gewalttätige, politisch extremistische, sexistische, diskriminierende oder auf eine andere Art anstößige Inhalte, die andere Personen, ethnische Gruppen, geschlechtliche Zuordnungen oder religiöse Bekenntnisse beleidigen, verleumden, bedrohen oder verbal herabsetzen, ist das Gespräch zu Ende. Das sind die Rahmenbedingungen, die Regeln oder Prinzipien, an die sich jede*r zu halten hat, wenn ein Dialog möglich sein soll. Und das ist immer noch das Ziel: Miteinander ins Gespräch kommen, Unterschiede ausloten, Differenzen benennen, streiten!

Es sind die Grenzen der Toleranz!

Orientiert an der „Emanzipation der Dissonanz“, also an der Idee, dass strittige Positionen eine gute Voraussetzung für ein konstruktives Gespräch sind, fühle ich mich ganz gut aufgehoben in dieser humanistischen Tradition. Das eigentliche Problem unserer zwischenmenschlichen Kommunikation ist wohl unsere zunehmende Unfähigkeit leidenschaftlich zu streiten, ohne sich persönlich so zu verletzten, dass es unter Umständen gar zum Bruch der Beziehung kommt. „Aus Freunden werden Feinde“ wäre eine wirklich unselige Entwicklung! Wahrscheinlich ist bereits die latente Angst vor einem möglichen Zerwürfnis Grund genug, warum es erst gar nicht zu einem solchen Streitgespräch kommt. „Ein Abend, an dem sich alle Anwesenden völlig einig sind, ist ein verlorener Abend.“ meinte einst Albert Einstein. Wenn ich meine Abende so Revue passieren lasse, dann fehlt mir da in der Tat der Kontrapunkt, der eine solche Kontroverse möglich macht. Nun ja!

Aber wie dem auch sei: Der Toleranz-Begriff steht in der Tradition von Humanismus und Aufklärung, er ist konstitutiv für eine offene, pluralistische und demokratische Gesellschaft. Um die aber zu bewahren, ihre Werte zu erhalten, ist es notwendig, aktiv gegen alle vorzugehen, die sie gefährden, oder in Verruf bringen. Um einer Haltung, einem Verhalten gegenüber tolerant sein zu können, muss ich die Beweggründe verstehen, bzw. akzeptieren. Aber selbst wenn ich die Beweggründe akzeptieren kann, findet meine Toleranz Grenzen durch beispielsweise die o. g. Gründe. Dann aktiv und begründet eine Position zurückzuweisen verstößt nicht gegen das Toleranzgebot, es erfüllt es vielmehr.

Toleranz steht in direktem Zusammenhang mit den Werten Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe. Eine Diskussion muss immer alle Aspekte dieser Werte einbeziehen, will sie substanziell sein. Das macht ein Gespräch nun wirklich nicht einfacher. Gleichwohl ist es eine Erfahrung der Corona-Pandemie, dass gerade für solche Gespräch die angemessene Zeit zur Verfügung stand. STAND! Vollendete Vergangenheit!!! Kein Termin, der dazwischen platzte, kein irritierendes Handygeräusch, kein Überraschungsbesuch, kein Autolärm.

Nun, ich bin längst in einen Zeter-und-Mordio-Modus diffundiert, in dem ich das Ende dieses Zustandes wortreich bedauere! Vielleicht lässt sich die ein oder andere Erkenntnis ja hinüber retten, in die sogenannte Normalität, also den Zustand von früher. Und dabei gibt es gerade soviel gute und wirkungsvolle Ansätze, eben nicht in den Status quo ante, den Zustand von vorher, zurückzufallen! Aber davon in einem anderen Beitrag!

Ergänzende Texte und Vorträge: Gerhard Polt über Toleranz, ein Text zu „Voltaire: Über Toleranz“, die „Prinzipien der Toleranz“ als Erklärung der UNESCO, und eine Zusammenfassung von Kant’s Schrift „Zum ewigen Frieden“.

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