Vorsorgemaßnahmen werden Opfer ihres eigenen Erfolges? Na klar. Das klingt zwar unwahrscheinlich, ist aber wohl tatsächlich so. Grenzen dicht machen? Nach dem starken Staatsführer rufen? Eine Verschwörung wittern? Zu esoterischen Gespinsten Zuflucht suchen? All das nimmt zu. Und außer der aggressiv vorgetragenen Unterstellung einer staatlichen Verschwörung zu Gunsten der Pharmaindustrie, flankiert von sog. Mainstreammedien mit Fake News, ist es vor allem die Flucht ins irrationale „Die-Erde-ist-eine-Scheibe-Geblubber einer Strahlenverseuchungsesoterik, die zunehmend in den Netzwerken und öffentlichen Nachrichtenkanälen auftauchen. In Krisenzeiten erweist sich der wirkliche Charakter, oder mache gesellschaftliche Tendenzen deutlich, meint der Volksmund, die bisweilen dumme Schnautze! Es bestärkt mich jedenfalls in meiner Meinung, dass das nur mangelhaft ausgebildete Abstraktionsvermögen die Ursache für dies unselige Geraune sei. Ich war schon vor Corona dieser Meinung, schon lange vor Corona. Es erinnert mich an eine einprägsame Formulierung von Joseph von Westphalen, der sinngemäß meinte, das aktuelle Regierungsbestiarium sei nur deshalb in Berlin, weil die ästhetische Urteilskraft des Souveräns, also des Volkes, in solch katastrophalem Zustand sei!
Ästhetische Urteilskraft hat sehr viel mit abstraktem Denkvermögen zu tun. Sich einer Vorstellung, einer Idee denkend zu nähern, sich mutig ins „nackte Gefild‘ abgezogener Begriffe “ (Schiller) zu wagen, ohne sofort in die Details der Realität abzugleiten, das ist die Grundvoraussetzung einer jeglichen Entwicklung. „Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt!“ wußte bereits Einstein, der ja zu allem etwas kluges zu sagen wußte. Aber auch poetisch hatte sich diese Erkenntnis schon längst herumgesprochen. Christian Morgenstern dichtete:
Der Ästhet
Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.Der jedoch bedarf nicht viel,
schätzt am Stuhl allein den Stil,
überläßt den Zweck des Möbels
ohne Grimm der Gier des Pöbels.
Und wer weiß, wenn die Fähigkeit zur Abstraktion besser ausgebildet wäre, ob wir dann an unserem bisweilen hohlen Geschwätz selber leiden würden? Ich bin gerade sehr skeptisch, denn auch wenn ich gerne glauben möchte, die Corona-Pandemie sei eine Zäsur, die es unserer Gesellschaft ermögliche, Fehler zu korrigieren, andere Schwerpunkte zu setzen, also aus den Erfahrungen zu lernen, so habe ich doch den Eindruck, es nimmt zu, dieses unreflektierte Gemeine, diese merkwürdig-eifernde Suche nach angeblichen Beweisen dafür, dass die Regierung ein abgekartetes Spiel spielt, „die Politiker“ uns unterdrücken, unsere Freiheiten unzumutbar einschränkt. Welch ein Unfug!
Aber halt. Ich bin auch ein Kritiker dieser Regierung, dieser Politik. Aber aus ganz anderen Gründen. Und nicht erst jetzt, sondern schon solange ich denken kann. Das ist wörtlich gemeint, denn ich konnte nicht schon immer denken. Meinen konnte ich, ganz engagiert, bis zur Arroganz, und bisweilen darüber! Irgendwann später aber habe ich gelernt. Das Meinen ging in dem Maße zurück, wie das Denken sich entwickelte. Und inzwischen kann ich das ganz gut. Jedenfalls so gut, dass mir der Unterschied immer gleich auffällt, wenn er mir begegnet. Und zur Zeit begegnet er mir sehr oft. Also denkend Kritik üben macht Kritik wirkungsvoller. Und akzeptabler. Und kritikwürdiger. Und damit konstruktiv. Eine bloße Meinung bleibt – bloß Meinung.
Die Grundhaltung heißt aber „“Standhalten“. Trotz alledem will ich, hoffnungsvoll, einen Beitrag leisten. Da die Realität nicht gerade viel Motivierendes bereit hält, muss ich mich selbst motivieren, und Unterstützung in der Literatur und Philosophie suchen. Bei Max Horkheimer finde ich, als Antwort auf die Frage, ob er Optimist oder Pessimist sei, die Formulierung, er sei theoretischer Pessimist, und praktischer Optimist. Eine gelungene und kluge Äußerung, die mri schon immer imponiert hat. Sie setzt allerdings voraus, dass wir zur Theoriebildung fähig sind, also abstrakt denken können. Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Das Petitum, selber zu denken, sehr häufig als Feigenblatt-Entschuldigung genommen, um krudes Gedankengut zu alimentieren, dieses Petitum ist zeitlos gültig. Allerdings muss man auch das lernen. Und üben. Denn nichts ist das weniger, als einfach nur die Meinung rauszuplappern. In einem solchen Fall würde ich es für besser halten, wenn man eine andere Fähigkeit beherrschte, die dem sozialen Zusammenleben ungemein förderlich ist: Klappe halten!
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich verständlich, dass wir, wollen wir etwas ändern, zunächst unser wichtigstes Hilfsmittel „schärfen“, unsere Sprache. Wir müssen miteinander reden, um gemeinsam Zukunft zu gestalten. Wir müssen uns als Komplizen einer gemeinsamen Sache verstehen, die sich einigen, dieser Gesellschaft das wieder zurückzugeben, was sie eigentlich ausmacht: Sozialen Zusammenhalt. Der Mensch macht den Unterschied, bei aller digitaler Transformation. Die Beziehungen zwischen Menschen sind das Elementare, auf das Menschen sich verlassen können, bei aller Technik. Die Solidarität der Menschen ist es, der sie vertrauen können. Wenn wir das aber ins Zentrum unserer Bemühungen stellen wollen, muss das Auswirkungen auf unser aktuelles Zusammenleben haben. Das nämlich müssen wir neu gestalten, und dazu kann jeder einen Beitrag leisten. Der allererste Beitrag, und meines Erachtens der wichtigste, ist, sich eine solche Zukunft gedanklich vorzustellen, sich also selber Gedanken dazu zu machen, wie es gehen könnte. Das ist ein theoretischer Akt, ein Akt der Abstraktion, der, ungetrübt von jeder Realität, zunächst nur theoretisch, nur eine Idee ist, völlig frei von der Frage nach der Umsetzung, den Kosten, den Ressourcen. Zunächst. Der Austausch darüber sollte unsere nächste Zeit bestimmen.
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