Es geht um einen Ort in der südhessische Provinz. Nicht um Deutschland. Nicht um die Welt. Und schon garnicht um Leben und Tod. Aber um Kommunalpolitik. Die Kommunalwahl steht an, es ist eine Listenwahl, mit der Möglichkeit zu kumulieren und zu panaschieren, also Listen und einzelne Menschen ganz nach Gusto anzukreuzen. Das haben erstaunlich viele so gemacht … et voilá … ich sitze in der neu gewählten Gemeindevertretung. Wie konnte das passieren? Das hätte ich mir nie träumen lassen, wollte es nie. Mich hat immer der Satz von Plato beruhigt: „Wer zu klug ist, sich in der Politik zu engagieren, wird dadurch bestraft, dass er von Menschen regiert wird, die dümmer sind als er selbst!“ Natürlich meinte er damit keine körperliche, sondern eher seelische Tortur. Die quälende Erfahrung von Ohnmacht im Angesicht umfassender und anhaltender Inkompetenz kann aber durchaus auch körperlich spürbar werden!
Diese platonische Erkenntnis diente mir lange als wohlfeile Begründung zu ertragen, was andere politisch bestimmen. Andererseits war es immer auch das damoklesschwertartige schlechte Gewissen, aus meinen Analysen und Studien nichts konkretes umzusetzen: „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“ meinte einst Kästner – und erhöht den Druck. Die gleiche Wirkung hat eine Tirade des früheren Fraktionsvorsitzenden der längst vergessenen Piraten-Partei in Berlin, dessen Name mir entfallen ist und der sich einmal wortreich über Intellektuelle echauffierte, die sich, beim Rotwein entspannt analysierend, vor ihrer Verantwortung drückten. Sehr beeindruckend. „Ach, es gibt so viele Schliche, um sich selbst zu hintergehen …“ singt dazu Konstantin Wecker leise.
wählen – und gewählt werden …
Mit Spätfolgen! Denn vor diesem Hintergrund nur ist die Entscheidung fürs Einmischen zu verstehen: Verantwortung übernehmen, Täter der Geschichte werden, das gemeinsame Leben gestalten, – Erinnerungen an Heydorn, den Pädagogen, werden wach, und damit auch an die ganze Frankfurter Schule, Adorno, Horkheimer vorneweg! Oha, jetzt wird es ernst: Ein vorderer Listenplatz erhöht die Chance, gewählt zu werden. Was dann auch passierte. Eine Funktion zu übernehmen war der nächste Schritt, auch der ungeplant, eher aus einer gewissen euphorischen Dynamik heraus. Der Blick auf die Realität klärt sich langsam! Nicht alles, was jetzt sichtbar wird, steigert das Hochgefühl.
Sondierung? Nach was eigentlich?
Zusammenarbeit mit anderen Parteien ist wichtig. Wer arbeitet mit wem zusammen, war deshalb die erste Frage, die den euphorisierten Diskurs etwas strukturierte. Gespräche mit allen, auf Augenhöhe natürlich. Eine Verhandlungsdelegation wurde gebildet, und eine in diesem Kontext originelle Methode eingebaut: Ein Gespräch wurden von einer Moderatorin begleitet. Ein gelungenes Experiment, und sicher nicht die Ursache dafür, dass kein zweites Gespräch gab. Die Gesprächspartner hatten schlicht das Interesse verloren, um diese Machtoption zu ringen. In der öffentlichen Darstellung wurde der Spieß einfach umgedreht, die Schuld am Abbruch der Gespräche von sich gewiesen. Eine rhetorisch wenig geschickte und leicht zu durchschauende Volte, ein Vorgeschmack.
Weil die kleinste Partei keine wirkliche Machtoption bot, blieb es auch im nächsten Gespräch bei nur einem freundlichen Treffen, in dem die traditionellen Differenzen inhaltlich und sprachlich routiniert vermieden wurden. Einzig die dritte Partei zeigte sich tatsächlich interessiert, es fanden mehrere Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen statt, an deren Ende eine gemeinsame Erklärung mit zum Teil ungewöhnlichen Formulierungen stand. Wer hätte das gedacht! Nun ja.
Im Vorfeld der konstituierenden Sitzung der Gemeindevertretung entfachte die Verteilung von Posten und offiziellen Aufgaben für die anstehende Legislatur eine spürbare Dynamik. Einigermaßen leidenschaftslos staunte ich über die Energie, mit der darum gerungen wurde. Image und Bedeutung der Funktion des oder der „Ersten Beigeordneten“, es handelt sich dabei um die Urlaubs- und Krankheitsvertretung des aktuellen Bürgermeisters, ist ungebrochen. In der Vereinbarung der koalierenden Parteien wurde das festgehalten und in der ersten Sitzung der Gemeindevertretung problemlos exekutiert. Sehr zum Leidwesen des bisherigen Partei-Platzhirsches, der unvermittelt eine Erfahrung machen musste, die der nun mächtigen Wählerinitiative bereits einige Jahre vertraut war, nämlich ohnmächtig mit ansehen zu müssen, wie die anderen ihre Machtoptionen nutzen, und ihre Interessen durchsetzten. Es blieb ihm nur der emotionale Versuch gegen Ende der Tagesordnung, einen Treffer mit der moralischen Keule zu landen. Der verbale Hieb blieb allerdings wirkungslos, er perlte an der Souveränität und Routine des früheren Fraktionsvorsitzenden ab. Im digitalen Nachkarten jedoch wird der Vorwurf aufrechterhalten, die aktuell koalierende Wählerinitiative messe mit zweierlei Maß, das sei moralisch verwerflich, und bleibe hinter den eigenen Forderungen zurück. Sie sei deshalb unglaubwürdig (Tenor: eigentlich ja schon immer!). Ein Beleg für die Stichhaltigkeit dieses Vorwurfs sei auch, dass dem früheren Fraktionsvorsitzenden quasi die Bühne überlassen würde. Eine sehr eigenwillige, exklusive Interpretation des Abends.
Gruppendynamik? Ein Fremdwort!
Nun, ob jemand in der Öffentlichkeit etwas sagt, kann vielfältige Gründe haben. Auch die Entscheidung, öffentlich nichts zu sagen, kann vielfältige Gründe haben. Die selbstkritische Erkenntnis, zu einem Thema nichts Wesentliches beitragen zu können, wäre ein guter Grund; die angemessene Zurückhaltung angesichts eines erschöpfenden Beitrags könnte ein anderer guter Grund sein; die kluge Vorsicht, auf unbekanntem formalem Terrain eher lernend zuzuhören ist ein weiterer guter Grund. Es gibt wirklich viele gute Gründe, einfach mal die Klappe zu halten. Ein schlechter Grund, weil an den Haaren herbeigezogen, ist aber die „Scheu vor Transparenz“, wie unisono behauptet wurde. Dafür braucht es schon sehr ritualisierte Denkmuster, verhaftet im klassischen Freund-Feind-Schema.
In der ersten Sitzung der Gemeindevertretung einen Wortbeitrag des neuen Vorsitzenden zu vermissen, hätte empathisch sein können, kollegial, mitdenkend, kümmernd, originell, angenehm, rührend, Brücken bauend, Hand reichend, Willkommen heißend, überraschend usw. usf. Es gibt viele Adjektive, die gepasst hätten. Was jedoch nicht gepasst hat, ist die argumentativ holprige Schlussfolgerung, das als Zeichen fehlender Transparenz zu brandmarken. Das ist bestenfalls aus Enttäuschung gespeiste Redseligkeit, vielleicht eine Überreaktion aufgrund des schmerzlichen Machtverlustes. Schlimmstenfalls jedoch ist es Ausdruck einer Haltung, die sich immer noch in tradierten Klischees bewegt und deren Sprache ein schablonenhaftes, erstarrtes Denken offenbart, das sich in argumentativen Laubsägearbeiten ergeht.
Kulturen begegnen sich …
Dass die frühere Fortschritts-Partei SPD bundesweit beinahe zur Randgruppe wird, steht quasi symbolisch für die seit geraumer Zeit grassierende Parteienverdrossenheit. Ein sicher schmerzhafter Prozess für eine Partei, die als visionäre Speerspitze der Intellektuellen auch die moralische Deutungshoheit für sich reklamierte. Und das durchaus berechtigt, auch wenn man den Bogen nur von der Ostpolitik Brandts und Bahrs, über den Irseer Entwurf eines zeitgemäßen Grundsatzprogramms 1986 bis zu Lafontaines Buch mit dem programmatischen Titel „Das Herz schlägt links!“ 1999 zieht. Diese Tradition wurde im überbordenden Pragmatismus der 2000er Jahre erstickt, die Sprache im „Brackwasser der Beliebigkeit“ ertränkt, wie Georg Schramm einst trefflich formulierte. Übrig bleiben ritualisierte Reflexe einer gekränkten Parteiseele, nachvollziehbar, wirkungslos. Nun ja!