Über Geschmack müssen wir streiten!

Warum um alles in der Welt sollte sich ein Nachdenken über den eher unbekannten Text eines alten Dramatikers, Lyrikers und Essayisten lohnen? Weil sein Thema hochaktuell ist. Und nach wie vor originell. Es geht um Schiller, Friedrich Schiller, der, neben vielen Gedichten, für die er bekannt ist, auch Dramen und Theaterstücke mit revolutionärem Pathos geschrieben hat, wofür er auch bekannt ist. Und er schrieb über Ästhetik, aisthesis im Griechischen, was die Lehre der sinnlichen Wahrnehmung meint, und wofür er nicht so wirklich bekannt ist. Im Fokus dabei steht die Lehre der Schönheit, die Gesetzmäßigkeiten und Harmonie in Kunst und Natur. Soweit, so gut, – noch nichts originelles. Was macht Schiller? Er liest intensiv die Philosophie von Immanuel Kant, vor allem dessen Kritik der Urteilskraft. Das schärft nicht nur sein Verständnis von Ästhetik, es bindet auch Schillers freiheitliches Denken ein. Als Philosoph der Aufklärung war Kant quasi das Maß aller (Theorie)-Dinge, sein „sapere aude – Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ der Fixstern einer Epoche, deren Auswirkungen auch heute noch spürbar sind. Von Kant stammt die Erkenntnis, dass wir, bei allem Wissen, niemals wirklich sicher sein können, welche Wirkung ein Verhalten tatsächlich hat. Ob die beabsichtigte Wirkung eintritt, können wir also nicht vorhersagen. Welche Bedingungen dafür eher förderlich, und welche eher hinderlich sind, das läßt sich jedoch ganz genau beschreiben. Kant hat das die „Bedingung für die Möglichkeit“ einer Entwicklung genannt. Und das wurde zu einem zentralen Bezugspunkt für Schiller’s Ästhetik, die zu einer Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung wurde. Und damit zu einer politischen Philosophie. Schiller hat die Ästhetik, also die sinnliche Wahrnehmung, in einen politischen Kontext gestellt, und ihr damit eine vollkommen andere Dynamik und Relevanz verliehen. Das ist für mich originell. Und aktuell.

Um was geht es dabei? Zunächst einige Daten, in der gebotenen Kürze: Schillers Philosophie über die Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung, die er 1793 in 32 Briefen an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg in Kopenhagen zu Papier bringt, ist quasi der Höhepunkt des Deutschen Idealismus’. Er erhebt damit vehementen Einspruch gegen das Zwangsdiktat der Vernunft der Aufklärung einerseits, und die nötigende Willkür der Sinne, also der Natur, andererseits. Sowohl das Triebhafte der menschlichen Natur ( er nennt es den „sinnlichen Trieb“), als auch die moralisch begründete, beinahe dogmatische Auffassung von Pflicht (die nennt er den „Formtrieb“), soll überwunden, ästhetisch versöhnt werden. Was ihn zusätzlich antreibt sind die Erfahrungen mit der Willkür eines aristokratischen Staates, vor allem aber die barbarischen Exzesse der misslungenen Französischen Revolution, die mit der Guillotine die zukunftsweisenden Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit radikal exekutierten.

Schiller konstruiert seine ästhetische Philosophie als Konsequenz aus diesen Erfahrungen. Sie soll eine der Bedingungen für die Möglichkeit der Entwicklung eines freiwillig moralisch handelnden Menschen sein, ganz im Geiste des Kategorischen Imperativs Kants: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Solche Menschen werden in der Aufklärung als mündige Menschen bezeichnet, Mündigkeit ist grundsätzlich das Ziel eines Bildungsprozesses. In diesem Zusammenhang versteht Schiller seine Philosophie als Beschreibung der grundsätzlichen Bedingungen für die Möglichkeit einer gelingenden ästhetischen Erziehung. Ein Rahmen, der meines Erachtens heute noch von Bedeutung sein kann. Ein mündiger Mensch, also einer, der eigenständig, und freiwillig moralisch handelt, ist weder ausschließlich durch den sinnlichen Trieb, noch ausschließlich durch den Formtrieb geprägt. Der Zustand ist ein balancierter, beide Triebe sind in ständigem Dialog. So findet der Mensch nicht nur persönliches Glück, er entwickelt den Staat zu einem „ästhetischen Staat“, zu einem Raum der Freiheit, der es dann allen Menschen ermöglicht, die humanistischen Ideale, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zu leben. Diese „Veredelung des Charakters“ auf dem Weg zur Mündigkeit leistet ästhetische Erziehung.

Schiller führt einen weiteren wichtigen Begriff seiner ästhetischen Theorie ein: Den Spiel-Begriff. Diesen Begriff verwendet er, um den Zustand besser beschreiben zu können, den er mit ästhetisch meint. Im Zustand des Spielens sieht Schiller den Gegensatz zwischen dem „sinnlichem Trieb“ (Natur) und dem „Formtrieb“ (Moral/Pflicht), aufgehoben, ästhetisch versöhnt. Wie weit er den Begriff fasst, macht ein berühmtes Zitat deutlich: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der Spielbegriff geht weit über das hinaus, was wir heute unter dem Begriff verstehen. Bei Schiller intendiert er eine intellektuelle Flexibilität, mit vorgegebenen Bedingungen kreativ umzugehen, die Möglichkeiten zu entdecken, die in einer anderen Perspektive auf das Gewohnte, das Alltägliche stecken. Der Spielbegriff meint auch die Akzeptanz des Anderen, die Sensibilität im Umgang mit Unterschieden. Hier ist ein Hinweis auf Adorno angebracht, dessen Friedensbegriff auch an dieses Verständnis Schillers erinnert: „Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander“(Th. W. Adorno, 1969). Schiller war fest davon überzeugt, dass eine moralische Kultur sich nicht erzwingen lässt, und eine zum Dogma erstarrte Vernunft in eine Katastrophe führen muss. Die gescheiterte Französische Revolution war für ihn eine leidvolle Lehre, wie ein Auszug aus dem Gedicht „Die Glocke“ nahelegt:

„Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte

Der Feuerzunder still gehäuft,

Das Volk, zerreißend seine Kette,

Zur Eigenhilfe schrecklich greift!

Da zerret an der Glocke Strängen

Der Aufruhr, daß sie heulend schallt

Und, nur geweiht zu Friedensklängen,

Die Losung anstimmt zur Gewalt.

Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,

Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,

Die Straßen füllen sich, die Hallen,

Und Würgerbanden ziehn umher.“

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – alles schön und gut, richtige Ideen, bedeutsame Forderungen, notwendige Perspektiven. Wenn aber die Guillotine als ultima ratio für die Durchsetzung der Vernunft dient, verkommen diese Begriffe zu Worthülsen auf dem Weg in die Barbarei. Enttäuschte Hoffnungen, das Umschlagen hehrer Ansprüche in unmenschliche Gewaltexzesse, führen Schiller zur Erkenntnis, dass die Aufklärung von einer Dialektik bestimmt ist, die auch in seiner ästhetischen Philosophie sich zum Ausdruck kommen muss. In der Erfahrung der „Dialektik der Aufklärung“, zugleich auch der Titel einer berühmten Schrift von Horkheimer und Adorno, gründete seine feste Überzeugung, dass der Mensch Sinnlichkeit und Vernunft nur in einem balancierten Zustand erleben kann. Der Rahmen dafür sollte ein „Staat der Freiheit“ sein, aufgebaut auf der freiwilligen Bereitschaft der Menschen, moralisch handeln zu wollen, um damit den  „Staat der Not“ mit all seinen Repressalien und Abhängigkeiten zu überwinden. Die beste Hilfe dafür ist für Schiller die Ästhetik, die in der Wahrnehmung von Kunst sichtbar wird, weil er in der Kunst das letzte Refugium der Autonomie zu erkennen glaubt. Eine ästhetische Erziehung ist notwendig, weil die Menschen in ihrer Entwicklung zur Mündigkeit eben noch nicht so weit sind, wie die Erfahrungen der Französischen Revolution zeigen. Für Schiller ist ästhetische Erziehung die Antwort auf die revolutionären Entwicklungen seiner Zeit, sie hat damit die gleiche Bedeutung wie die Moral, sie soll als Orientierung des Menschlichen dienen.

Den Vorwurf, dass seine ästhetische Erziehung weltfremder Idealismus sei, sie jeden Realitätsbezug vermissen lasse, kontert Schiller selbstsicher mit der Aussage: „Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern“. Ja, das klingt sehr pathetisch. Und eine einzige Wahrheit gibt es ohnehin nicht, wie wir inzwischen, und nicht erst seit Watzlawick oder Luhmann, wissen. Darum geht es hier auch nicht! Es geht hier vor allem darum, über die Wirklichkeit hinaus zu denken! Sapere aude! Das ist es, was heute wichtiger ist denn je. Angesichts internationaler Krisensituationen, und komplexer, globaler Problemkonstellationen ist es die von Schiller geforderte intellektuelle Flexibilität, die von Kant zum Programm erhobene Eigenständigkeit im Denken, was die Menschheit heute dringend braucht.

Statt dessen scheint ein bedrückender, lähmender geistiger Mehltau auf der Welt zu liegen, die Menschen haben es sich eingerichtet im Denken und Fühlen in Traditionen, Vorteilen und Klischees, im Rückgriff auf Bewährtes, wofür sinnbildlich die Wiederbelebung des Nationalismus’ steht, das Aufleben antisemitischer Parolen, zunehmend mehr autoritäre Staaten wie Ungarn, Polen, aktuell Weißrussland, hasserfüllte, aggressive Kommunikation im Netz, Verlust von Distanz und Differenz. Wie weiland Schiller mit seiner ästhetischen Philosophie Einspruch erhob gegen das „Joch des Nutzens“, dem alles unterzuordnen war, und das „Schlachtopfer des Fleisses“, das Freiheit noch nicht einmal mehr zu denken in der Lage ist, so wird es für uns Zeit, standzuhalten und zu widersprechen! Laut und vernehmbar. Wir haben einfach keine Zeit, immer nur dagegen zu sein, ist das Motto dabei, konstruktiv und schnell! Deutlich schneller jedenfalls, als es die üblichen bürokratischen Abläufe bisher nahelegen. Selbst initiativ werden, in Parteien eintreten, bestehende Initiativen zu unterstützen, und so dafür sorgen, dass eine „ästhetische Erziehung“ im Schiller’schen Sinn den gesellschaftlichen Stellenwert bekommt, den sie braucht, um zu wirken. Damit wir Menschen besser voran kommen auf dem Weg zur Mündigkeit! Und unsere Welt retten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert