„Wie wollen wir leben?!“

Wenn ich vor dem Rechner sitze, und mit einem Hauch Enthusiasmus mich auf ein zu bearbeitendes Thema stürze, dann gleitet mein Blick bisweilen ab in die Unendlichkeit. Kurt Kister, Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung, beschrieb das einmal einprägsam als „mit unfokussiertem Blick glotzen“. Es würde an das „Starren der Ziege“ erinnern, ein Ausdruck aus seiner bayerischen Heimat. Mich hat das wiederum an den Film „Männer, die auf Ziegen starren“ erinnert, in dem die Mitglieder einer Spezialgruppe des amerikanischen Militärs ihre telepathischen Kräfte zu Waffen entwickeln sollten. Übungsbeispiel: Ein Soldat, im Film gespielt von Georg „Nespresso“ Clooney, sitzt in einem Raum auf einem Stuhl. Er starrt angestrengt durch eine Betonwand hindurch auf eine Ziege, die angebunden im Nebenraum steht. Er starrt so lange, bis die Ziege tot umfällt. Was, zur Überraschung beinahe aller, schließlich auch passiert. Ergo: Telepathie ist eine Waffe, – quod erat demonstrandum, was zu beweisen war! Altersschwäche, Wassermangel oder ziegenuntypisches langes Rumstehen wären als Todesursachen auch denkbar.

Nun, wie dem auch sei, es ist ein Film. Und jeder Mensch kann darüber denken, was er oder sie will. Ob daraus allerdings die Meinung wird, beim amerikanischen Militär würde Telepathie als Waffe eingesetzt, dafür ist jede*r selbst verantwortlich. Und naturgemäß auch dafür, ob er oder sie diese Meinung öffentlich äußert. Dass jede*r das Recht hat, zu sagen, was er oder sie meint, ist nun oft genug erzählt worden. Das Recht auf Aufmerksamkeit ist damit allerdings nicht gemeint. Und ob jemand solcherlei Unfug von sich gibt, hat immer auch etwas damit zu tun, ob dem Sprechen ein Denken vorausgegangen ist, was bei solchen Aussagen dann zumindest bezweifelt werden müsste.

Vor kurzem hat in einer regelmäßig erscheinenden Kolumne der ZEIT der Autor über Toleranz und Meinungsfreiheit geschrieben, mit dem Akzent auf der politisch korrekten Sprache. Grundlage war eine Studie, die prima vista, also beim ersten Querlesen, den Eindruck vermittelte, dass man in Deutschland nicht mehr sagen darf, was man denkt. Er macht das an einem Beispiel aus der Studie deutlich:

Die Teilnehmer*innen an der Studie wurden gefragt, „ob eine Person, die Unterschiede in den Fähigkeiten von Männern und Frauen als biologisch begründbar betrachtet, an der Universität lehren sollte, dort einen Vortrag halten sollte und ob die Bücher dieser Person aus der Bibliothek entfernt werden sollen. Und ob das auch für eine Person zutreffen sollte, die den Islam für unvereinbar mit dem westlichen Lebensstil hält. Oder Homosexualität gefährlich und unmoralisch ist.“ Das wurde mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt, was von den Initiatoren der Studie als Mengel an Toleranz interpretiert wurde.

Hier interveniert der ZEIT-Kolumnist. Er meinte, das Recht auf Meinungsfreiheit beinhalte nicht zwangsläufig auch das Recht auf einen Lehrauftrag. In einer Demokratie hat jeder das Recht, seine Meinung öffentlich kund zu tun, woraus sich aber kein Recht ableite, auch angehört zu werden, oder gar ein öffentliches Amt zu begleiten. Bestimmte Meinungen berechtigten nämlich nicht einmal mehr zur Diskussion, nämlich immer dann, wenn sie hinter das aktuelle Faktenwissen zurückfallen. Und es gibt nunmal keinen empirischen Hinweis darauf, dass Homosexualität gefährlich sei, oder eine Religion nicht zum westlichen Lebensstil passe, – oder Corona ungefährlich wie ein Schnupfen sei! Darüber müssen wir nicht mehr diskutieren. Und auch nicht darüber, dass die Klimakatastrophe vom Menschen verursacht wurde, Rüstungsexporte u. a. die Ausrüstung für afrikanische Kindersoldaten sichern, die Art unseres Wirtschaftens weltweit zu Hungerkatastrophen führt, und die Erde keine Scheibe ist. Über all das müssen wir nicht mehr diskutieren.

Worüber wir allerdings diskutieren, und das meint vor allem streiten müssen, ist, welche Schlüsse wir aus all diesen Erkenntnissen ziehen. Und wie wir dann zügig die ersten Schritte umsetzen.

Dabei hilft es ungemein, wenn wir zwei Dinge beachten. Wir brauchen zunächst eine Vorstellung davon, wie wir, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Das gibt uns die notwendige Orientierung. Dieser erste Schritt ist schon schwer genug, denn wir müssen uns dafür in das „nackte Gefild’ abgezogener Begriffe“ begeben, wie Schiller einst das Abstrakte bezeichnete. Wir müssen also theoretisch darüber diskutieren. Angesichts eines beinahe übermächtigen Hangs zum Aneinanderreihen von konkreten, praktischen Erlebnissen und, ja, persönlichen Erfahrungen ist das eine große Herausforderungen für alle Beteiligten, die Geduld, Toleranz, Großmut erfordert.

Zweitens müssen wir die Rituale unserer erstarrten Gesprächskultur verändern. Mit dem Risiko, eine nicht fernsehtaugliche Formulierung zu verwenden, brauchen wir notwendigerweise eine sprachliche Haltung, in der eine Antwort etwas mit dem zu tun hat, was die oder der Gesprächspartner*in vorher gesagt hat. Das ist unmittelbar einleuchtend, und umso verwirrender, weil es so selten geschieht!!! Denn wenn, wie jüngst in einer Talkshow wieder leidvoll ertragen, ein Politiker, – zumeist sind es Männer!-, sich in weiten Teilen seiner Rede auf das bezieht, was seine Partei/Regierung alles Tolles gemacht habe, und dafür weitschweifig kommentierte Zahlen liefert, dann erstickt er damit jeden Versuch, die Diskussion in einer andere Dimension zu bringen. Maja Göpel und Luisa Neubauer waren mit vollem Einsatz dabei, sie verzweifelten unsichtbar, aber durch den Äther spürbar an der Mauer der routinierten Politikersprache, und an der Bräsigkeit der devoten Industrielobby. Die Moderatorin trug Ihren Teil zum Misslingen bei, indem sie zwanghaften an den vorgesehenen Einspielfilmchen festhielt, und damit eine konstruktive, kontroverse Diskussion verhinderte. So blieb alles beim Alten, auch das Lamento, und auch wenn das Etikett „Wie wollen wir leben?!“ draufklebt.

Und trotzdem: Fridays for Futur mit der Galionsfigur Luisa Neubauer, Scientists for Future und die wissenschaftliche Forschung und Lehre mit Maja Göpel, der Sammler alternativer Beispiele menschlicher Ökonomie Harald Welzer, der „Frankfurter Appell“ der Initiative abrüsten statt aufrüsten, die politischen Kolumnen der SZ von Kurt Kister und Heribert Prantl, auch wenn letzterer sich gerade etwas vergaloppiert, die Lieder von Konstantin Wecker und Hannes Wader, die Kabarett-Programme von Georg Schramm, – natürlich gibt es noch viel mehr ermutigende Beispiele. „Unsere Welt neu denken“ titelte Maja Göpel, „Alles könnte anders sein“ Harald Welzer. In dieser Pandemiezeit lässt sich’s darüber gut nachdenken. Und dann auch gut darüber reden.

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